Das Haus der toten Mädchen
Werkstatt gebracht. Er sagt, das Auto hat einen Blechschaden. Und auf dem Sitz ist eine Menge Blut.“
„Ich habe mir den Kopf gestoßen“, räumte sie ein. Es war ihr fast peinlich.
„Das sehe ich. Sie hätten mich sofort aufsuchen sollen, Sophie. Oder mich anrufen sollen; ich wäre hergekommen. Kopfverletzungen darf man nicht auf die leichte Schulter nehmen. Sie könnten eine Gehirnerschütterung haben, oder etwas Schlimmeres.“
„Mir gehts gut, Doc. Es hat nur wahnsinnig stark geblutet.“
„War es Ihr Nachbar? Hat er Sie von der Straße gedrängt?“
„Wie kommen Sie denn auf so etwas?“ empörte sie sich. „Niemand hat mich abgedrängt.“ Dann ging ihr auf, dass das nicht ganz der Wahrheit entsprach. Der betrunkene Fahrer an den Dutchman’s Falls hatte an allem Schuld, aber der war längst über alle Berge. „Ich bin spät nach Hause gefahren, es hat geregnet, und ich habe nicht gut genug auf die Straße geachtet. Ich habe die Kurve verpasst und bin im Graben gelandet. Ärgerlich, aber ganz einfach zu erklären.“
Es entstand eine lange Pause. Dann meinte Doc: „Zebulon King hat mir erzählt, an einem der Kotflügel befinde sich blauer Lack. Er ist zwar ein religiöser Fanatiker, aber sonst durchaus bei Sinnen. Sind Sie mit jemandem zusammengestoßen, Sophie? Mir können Sie ruhig die Wahrheit anvertrauen. Haben Sie gestern Abend etwas getrunken? Wenn Sie irgendetwas oder irgendjemanden gerammt haben, sollten Sie es einfach zugeben. Ich kann Ihnen helfen …“
„Doc, ich habe nichts getrunken“, entgegnete Sophie und lachte kurz. „Ich trinke im Allgemeinen nicht viel, und wenn ich Auto fahre, schon gar nicht. Ich war nur nicht bei der Sache. Ich grübelte vor mich hin, und die Straßen waren vom Regen aufgeweicht.“
Sie verriet ihm nichts von ihrem Beinahe-Absturz. Das erschien ihr überflüssig; er würde sich nur unnötig Sorgen machen. Aber es war schon ein seltsames Gefühl, ihn anzulügen. Vielleicht lag es vor allem daran, dass er ganz erpicht drauf zu sein schien, die falsche Schlussfolgerung zu ziehen. Was trieb ihn dazu, Smith zu verdächtigen? Dass
sie
dem Kerl misstraute, war logisch. Sie hatte allen Grund anzunehmen, dass er sie zumindest belogen hatte. Aber Doc hätte ihm gegenüber unvoreingenommen sein müssen.
„Das war sehr nett von Mr. King“, fügte sie hinzu. „Ich habe ihn ein paarmal bei Audley’s getroffen. Er ist der, der wie Abraham Lincoln aussieht, nicht? Es wundert mich, dass er sich darum gekümmert hat. Er wirkt eigentlich wie jemand, der nicht viel von Menschen hält, schon gar nicht von Neuankömmlingen. Seine arme Frau tut mir Leid.“
„Er ist ein guter Mensch“, sagte Doc. „Er hat nur altmodische Wertvorstellungen.“
„Altmodisch oder alttestamentarisch? Er ist mir unheimlich. Er sieht immer so aus, als wolle er auf mich zeigen und mich als Sünderin beschimpfen.“
„Sind Sie denn eine?“ fragte Doc sanft.
„Nein.“
Doc nickte. „Manchmal mache ich mir Sorgen um Sie. Zu erfahren, dass an dem Unfall letzte Nacht niemand beteiligt war, erleichtert mich. Dass niemand versucht hat, Ihnen etwas anzutun.“
„Warum sollte das jemand wollen? Ich habe keine Feinde.“
„Manche Menschen brauchen keine Feinde, um das Unglück anzuziehen. Ich bin ein alter Schwarzmaler, ich weiß. Seit jener schrecklichen Zeit mache ich mir ständig Sorgen, dass es wieder passieren könnte. Dass es noch nicht vorbei ist, dass der Mann, der diese Mädchen umgebracht hat, zurückkommen könnte.“
„Warum sollte er das tun?“ erkundigte sich Sophie. Der Kaffee in ihrer Magengrube schien sich plötzlich in Blei verwandelt zu haben.
„Heißt es nicht, dass Mörder immer an den Ort des Geschehens zurückkehren? Vielleicht kann er nicht anders. Vielleicht will er für seine Sünden Buße tun. Psychopathologie war nie meine Stärke. Ich begreife diese mordenden Wahnsinnigen einfach nicht, und eigentlich möchte ich sie auch nicht verstehen. Ich will nur sicher sein, dass niemand mehr Schaden nimmt.“
Sophie beugte sich vor und berührte seine raue, knochige Hand. „Doc, das ist zwanzig Jahre her.“
„Es ist nicht vorbei“, verkündete Doc mit gepeinigtem Blick. „Irgendetwas sagt mir, dass es noch nicht vorbei ist. Ich möchte, dass Sie besonders vorsichtig sind, Sophie. Trauen Sie keinem Fremden, so nett er sich auch geben mag. Und lassen Sie Marty nicht alleine herumstreifen. Dieses Mädchen zieht Ärger magnetisch an, und es würde mir das
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