Das Haus der vergessenen Träume: Roman (German Edition)
zu werden. Wie könnte Hester ihrem guten Willen besser Ausdruck verleihen? Sie kramt in dem Beutel und sucht grünes, blaues und safrangelbes Garn heraus. Frische Farben für den frischen Frühling. Hester summt fröhlich vor sich hin, während sie das Muster anzulegen beginnt, und als Cat Morley das Teetablett bringt, dankt sie ihr freundlich und bemüht sich, nicht die Sehnen auf Cats Handrücken anzustarren, die sich beinahe stolz unter der Haut abzeichnen.
»Du redest nicht viel, was?«, bemerkt Mrs. Bell, als Cat das letzte Stück Teegeschirr abtrocknet und danach das feuchte Geschirrtuch über den Herd hängt. Die Haushälterin lehnt das breite Hinterteil an den schweren Arbeitstisch, die Knie zusammengepresst, die Füße aber leicht gespreizt, und beobachtet Cat mit Argusaugen. Die Küche liegt im Souterrain, sodass man durch die hoch angebrachten Fenster schräg in den Himmel und auf die Baumwipfel hinausschaut.
»Nur, wenn ich etwas zu sagen habe.« Cat zuckt mit den Schultern. Mrs. Bell gibt ein Brummen von sich.
»Ist wohl besser als so ein junges Ding, das den lieben langen Tag vor sich hin schwatzt.« Mrs. Bell mustert Cat noch einmal prüfend. »Du sprichst nicht wie jemand aus London. Ich habe schon einige Londoner gehört, die hier im Ort etwas verkauft oder Reden gehalten haben.«
»Meine Mutter hat sehr auf gute Aussprache geachtet. Der Gentleman hat bei allen seinen Angestellten Wert darauf gelegt«, erwidert Cat steif. Sie will nicht von ihrer Mutter sprechen. Sie will nicht von London sprechen, von der Vergangenheit. Mrs. Bell brummt erneut.
»Tu bloß nicht so eingebildet, jetzt, wo du hier bist. Du stehst ganz unten auf der Leiter, mein Mädchen – ein Wort von mir genügt, und du kannst deine Sachen packen.«
»Wie freundlich von Ihnen, mich darauf hinzuweisen«, murmelt Cat finster.
»Werd ja nicht frech.« Mrs. Bell hält inne, als zügelte sie ihre eigene Zunge. »Wie sieht’s mit Kochen aus?«
»Ich habe manchmal geholfen, das Essen für das Personal zuzubereiten. Aber nie für die Familie.«
»Gemüse putzen und so weiter? Kannst du Blätterteig?«
»Nein.« Cat schüttelt den Kopf und streckt die Arme nach hinten, um ihre Schürze aufzuknoten.
»Nicht so schnell, wenn ich bitten darf! Für das Abendessen heute sind noch vier Tauben zu rupfen – sie liegen im Kühlkeller.« Cat knotet die Schürze wieder zu und wendet sich zum Gehen. »Und mach das draußen auf dem Hof, sonst kehrst du noch tagelang Federn auf!«, ruft Sophie Bell ihr nach.
Der Hof ist ein kleiner Bereich an der Westseite des Hauses, umgeben von einer hohen Ziegelmauer und mit den gleichen roten Ziegeln gepflastert. Die Abendsonne scheint Cat bei der Arbeit warm auf den Kopf, und sie ist umgeben von zarten grünen Pflänzchen, die sich aus kleinen Rissen im Mörtel emporschieben. Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen, denkt Cat, während ihre Finger die weichen Federn der Vögel packen und mit einem scharfen Zug aus der schlaffen Haut rupfen. Das reißende Geräusch, das dabei entsteht, hat sie schon immer gehasst und diese Arbeit deshalb um jeden Preis gemieden. In London waren die Dienstboten zahlreich und ihre Rollen genau festgelegt. Nur im absoluten Notfall hätte man ein Stubenmädchen Vögel für die Küche rupfen lassen. Dazu waren die Küchenmädchen da. Dazu war Tess da, mit verschmierten Fettflecken auf der Schürze, braunen Fingernägeln vom Kartoffelschä len, Mehlspuren im fröhlichen Gesicht. Die toten Vögel riechen klebrig süß. Ihre Köpfe baumeln und schlenkern, während Cat arbeitet, und die trockene Haut um ihre Schnäbel ist rissig. Cat denkt an getrocknetes Blut auf Tess’ Lippen, ihr blutverschmiertes Zahnfleisch, das ihre Zähne dunkel umrandet. Sie denkt an den gleichen ekelhaft süßlichen Geruch, der vom derben Stoff einfacher, blutgetränkter Kleidung aufsteigt. Cat sehnt sich nach einer Zigarette.
Gegen fünf Uhr kündet ein Klappern und das Surren von Speichen die Rückkehr des Reverend Albert Canning an. Hester legt ihre Stickarbeit beiseite und geht in den Hausflur, um ihn zu empfangen. Mit dem Stundenschlag öffnet er die Tür und lächelt seine Frau an, die ihm Hut und Ranzen abnimmt, während er das schwere Fernglas ablegt, das um seinen Hals baumelt, und den Mantel auszieht. Albert ist groß und schlank, sein helles Haar, fein wie Flaum, beginnt sich gerade am Oberkopf zu lichten – was ihn nicht im Mindesten älter wirken lässt, sondern im Gegenteil seine
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