Das Haus der vergessenen Träume: Roman (German Edition)
aber nicht in die Augen und sagt kein Wort.
Spät am Abend liegt Cat noch wach. Die dünne Matratze ist klumpig, Rosshaar sticht durch den fadenscheinigen Drillich. Die Bibel, die in ihrem Zimmer lag, hat sie in die Tür gelegt, damit sie nicht zufällt. Die Heilige Schrift da auf dem Boden zu sehen, so wenig ehrerbietig behandelt wie ein Sandsack, gefällt ihr. Die Worte darin sind ebenso leblos und genauso schwer. Durch den Türspalt scheint der Mond kalt und ruhig herein. Cat liegt still und lauscht dem Schnar chen von Mrs. Bell am Ende des Flurs. Ein, aus – ein, aus. Sie meint das Wabbeln des dicken Halses dabei hören zu können. Vorsichtig atmet Cat ganz tief ein. Da. Sie ist noch da, ganz unten in ihrer Lunge – die kleine nasse Blase, die einfach nicht austrocknen will. Cat lässt den Atem ausströmen und bemüht sich, nicht zu husten. Das ständige blutige Husten im Gefängnis – die ganze Nacht hindurch, aus jeder Zelle, weil die Feuchtigkeit, die Schimmelsporen und die widerliche Mixtur des Arztes ihrer aller Lungen verstopfen wie mit Schlamm. Sie fährt mit den Daumen über den Drillich und zählt die harten Härchen, jede Sekunde eines, während die Nacht langsam verstreicht und ihre Augen offen bleiben. Cat kann sich nicht erinnern, wie es sich anfühlt, sich hinzulegen und einzuschlafen. Dieses friedvolle Gefühl, alle Macht und Kontrolle aufzugeben. Sie kann das nicht mehr. Dieses Aufgeben fühlt sich an wie der Tod, als könnte sie schon der Luft im Raum nicht trauen, als würden die Wände selbst über sie herfallen, wenn sie es wagt, die Augen zu schließen, und die Schatten lebendig werden und sie verschlingen.
In einem anderen, beinahe dunklen Zimmer ein Stockwerk tiefer betrachtet Hester Alberts Silhouette. Er liegt auf dem Rücken mit geschlossenen Augen und so auffallend entspanntem Gesicht, dass Hester vermutet, er sei noch wach. Die Schönheit seiner Züge wirkt entwaffnend auf sie. Dieses Tal zwischen Stirn und Nasenrücken, die leicht schmol lende Unterlippe. Sein Anblick löst einen ziehenden Schmerz in ihr aus, den sie nicht klar benennen kann, als wäre da irgendein Nerv, der angespannt ist und Erleichterung sucht. Sie streckt den Arm nach Albert aus, ergreift die Hand, die auf seiner Brust liegt, und verschränkt die Finger mit seinen. Da, sie spürt es – die subtile Veränderung in seinem Atemrhythmus, die leichte Anspannung des ganzen Körpers.
»Bertie? Bist du wach, Liebster?«, flüstert sie. Er antwortet nicht. Wenn er Dich erst umarmt und küsst und Deine leidenschaftliche Liebe zu ihm spürt, wird auch seine Leidenschaft geweckt, und Eure Leiber können sich vereinigen , hatte ihre Schwester geschrieben. Hester ist sich ihres eigenen Leibes bewusst, der sich in ihrem Nachthemd bewegt, der Haut, die den Baumwollstoff streift, befreit von dem Korsett, das ihren Körper den ganzen Tag lang einschließt. Ihr Haar gleitet wie eine weiche, zärtliche Welle über ihre Schulter. »Ich wünsche mir so sehr, du würdest mich umarmen«, sagt Hester mit leicht zitternder Stimme.
Albert schlägt die Augen nicht auf, als er ihr antwortet: »Es war ein sehr langer Tag, Liebste. Ich bin schrecklich müde.« Diese Worte hört Hester sehr oft von ihrem Mann. Sie hat sie sogar in ihrer Hochzeitsnacht gehört.
»Natürlich. Schlaf nur, liebster Bertie«, flüstert sie.
2
2011
Leah las den Brief des Soldaten, und eine steile Falte bildete sich dabei zwischen ihren Augenbrauen. Ryan streckte die Hand aus und strich die Haut an genau dieser Stelle glatt, sodass Leah zusammenfuhr.
»Lass das!«, fauchte sie und riss den Kopf zurück.
»So reizbar«, seufzte Ryan. Er lächelte, als er sich wieder zurücklehnte, doch Leah sah ihm den leichten Verdruss an. Sie spürte Triumph in sich aufflackern und ärgerte sich sofort über sich selbst.
»Das hier ist aber doch nicht das Original, oder?«, fragte sie.
»Natürlich nicht – wir haben ihn abschreiben lassen. Das Papier des Originals ist unglaublich brüchig. Etwas Wasser war eingedrungen – nicht viel, er hatte die Blechschachtel sehr sorgfältig versiegelt – und hatte den Umschlag zerstört. Mit anderen Worten: den Namen des Adressaten, unseres mysteriösen Soldaten.«
»Und sie nennt ihn ›Sehr geehrter Herr‹. Nicht gerade hilfreich«, murmelte Leah.
»Nein, aber wenn sie uns seinen Namen verraten hätte, würde ich dich ja nicht brauchen.« Seine Wortwahl ließ Leah aufblicken. »Ist schon spannend, oder?«, bemerkte
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