Das Haus der vergessenen Träume: Roman (German Edition)
setzt sich an dem Schreibtisch aus Walnussholz im Musikzimmer zurecht, das Haushaltsbuch aufgeschlagen vor sich. Diese Haltung nimmt sie auch zu ihrer wöchentlichen Sitzung mit Mrs. Bell ein, bei der Speisezettel und Haushaltsgeld und Vereinbarungen mit Kaminkehrern, Lebensmittellieferanten und Fahrradmechanikern besprochen werden. Sie findet, dass diese Pose den richtigen Eindruck vermittelt – damenhaft, aber geschäftsmäßig, gebieterisch und doch zugänglich. Die Nachmittagssonne liegt in gelben Pfützen auf dem Eichenparkett und beleuchtet den gemächlichen Tanz von Staubflocken und Stubenfliegen. Hester schlägt gereizt nach einer Fliege, die ihr zu nahe kommt. Sie empfindet die haarigen Körper der Insekten als geradezu unanständig und ekelt sich davor, wie sie sich in ihren letzten Augenblicken auf den Fensterbrettern niederlegen und die borstigen Beine kreuzen, als erwarteten sie, dass jemand ihnen die Sterbesakramente bringt, bevor ihre Kadaver trocken und hart werden. Hester ist ungeheuer erleichtert, dass sie die toten Fliegen von nun an nicht mehr wird aufkehren müssen. Mrs. Bell hatte große Mühe, sowohl mit dem Putzen als auch mit dem Kochen hinterherzukommen – von dieser Frau kann man wahrlich keine flotte Arbeit erwarten.
Hester hört, wie sie sich polternd von der Küche her nähert. Sie nimmt eine noch aufrechtere Haltung an und legt ein mildes, vornehmes Lächeln auf ihr Gesicht. Einen Moment lang befällt sie die Sorge, ein Vergleich mit dem kosmopolitischen letzten Dienstherrn von Cat Morley könn te zu ihrem Nachteil ausfallen. Dann erinnert sie sich daran, dass das Mädchen praktisch eine Geächtete ist, und sie entspannt sich wieder. Ein wenig schämt sie sich ihrer eigenen Nervosität, da ihre Rolle ja darin bestehen wird, die junge Frau mütterlich anzuleiten und zu bessern.
»Das neue Mädchen, Madam«, verkündet Mrs. Bell nach einem kurzen Anklopfen.
»Danke, Mrs. Bell. Komm nur herein, Cat«, sagt Hester herzlich, doch dann zögert sie verwirrt. Cat Morley sieht eher aus wie ein Kind. Einen Augenblick lang glaubt Hester, es müsse irgendein Irrtum vorliegen. Das Mädchen ist kaum einen Meter fünfzig groß und wirkt so knochig und zerbrechlich wie ein Vogel. Ihre Schultern sind schmal, Hände und Füße geradezu winzig. Ihr Haar, beinahe rabenschwarz, ist sehr kurz geschnitten. Es streift höchst undamenhaft ihre Ohren. Cat hat den Pony zurückgesteckt, was ihr noch mehr das Aussehen eines Schulmädchens verleiht. Doch als sie sich dem Schreibtisch nähert, erkennt Hester, dass dies kein Irrtum ist. Cats Gesicht ist schmal, das Kinn spitz, doch die dunklen Ringe unter ihren Augen und die steile Falte zwis chen ihren Brauen verraten Lebenserfahrung. Cat starrt Hester mit einem so festen Blick entgegen, die braunen Augen völlig unerschrocken, dass Hester sich unbehaglich fühlt, beinahe verlegen. Sie wirft Mrs. Bell einen Blick zu, als diese den Raum verlässt, und schließt aus deren schmalen Lippen ganz genau, was sie von der neuen Angestellten hält.
»Nun«, sagt Hester nervös. »Bitte, nimm Platz, Cat.« Das Mädchen lässt sich auf der Kante des geschnitzten Stuhls vor dem Schreibtisch nieder, als wollte es jeden Augenblick davonfliegen. »Es freut mich, dass deine Reise hierher gut verlaufen ist.« Hester hatte sich im Geiste zurechtgelegt, was sie zu der jungen Frau sagen würde, um sie zu beruhigen und ihr zu zeigen, welch freundliches, ruhiges und gottgefälliges Haus sie aufgenommen hatte. Doch der Schreck über die Erscheinung des Mädchens hat alles in ihrem Kopf ein wenig durcheinandergebracht, und jetzt weiß sie nicht mehr, was sie sagen wollte. »Du wirst hier gewiss sehr glücklich sein«, beginnt sie ein wenig zögerlich. Cat blinzelt, und obwohl sie keine Miene verzieht und kein Wort sagt, vermittelt sie Hester den deutlichen Eindruck, dass sie Zweifel an dieser Behauptung hegt. »Du meine Güte! Eine Frisur wie deine habe ich noch nie gesehen! Ist das der neueste Schrei in London? Lebe ich modisch etwa hinter dem Mond?«, platzt Hester heraus. Ihr eigenes Haar ist ihr ganzer Stolz. Es ist hell, voll und weich und lässt sich jeden Morgen gefällig zu einer üppigen Frisur hochstecken.
»Nein, Madam«, sagt Cat leise, ohne auch nur einmal den Blick zu senken. »Mein Haar war früher immer lang. Ich war gezwungen, es abzuschneiden, nach … nach meiner Zeit im Zuchthaus. Es war schrecklich verlaust.«
»Oh! Läuse! Wie abscheulich!«, ruft Hester
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