Das Haus der vergessenen Träume: Roman (German Edition)
außergewöhnlich verschlossen, dass sie befürchtet hatte, sie könnte ihn damit vergraulen. Seine heftige Reaktion, als er sie für eine Journalistin gehalten hatte, die sich für ihn persönlich interessierte, hatte ihre Neugier natürlich erst recht angestachelt. Ihr Gewissen zwickte nur leicht, als sie sich jetzt wieder ihrem Laptop zuwandte und seinen Namen googelte. Relativ aktuelle Presseartikel wurden angezeigt. Die Story hatte zwar keine fetten Schlagzeilen gemacht, war aber wochenlang immer wieder aufgetaucht, mit zwei, drei Spalten auf Seite acht oder neun. Leah überflog ein paar dieser Artikel und biss sich vor gebannter Aufmerksamkeit auf die Unterlippe, während ihre Augen immer größer wurden. Sie erinnerte sich vage daran, dass sie auch in den Nachrichten einen kurzen Bericht über den Fall gesehen hatte. Aber das war irgendwann am frühen Morgen gewesen, als sie beim Frühstück teilnahmslos auf den Fernseher gestarrt hatte, ohne richtig zuzuhören. Kein Wunder, dass er nicht mit einer Journalistin sprechen wollte. Die Presse hatte ihm während des vergangenen halben Jahres ganz schön zugesetzt.
Um zwölf Uhr ging sie wieder den überwucherten Weg durch den Vorgarten auf das alte Pfarrhaus zu. Regentropfen am Türklopfer benetzten ihre Handfläche und ließen sie erschauern, sodass sie das Kinn unter ihrem Schal vergrub. Inmitten des winterlich toten Gartens erschienen die ersten kleinen Farbtupfer. Violette Hyazinthen oder blassgelbe Narzissen sprossen hier und da, und die mintgrünen Spitzen kleiner Tulpen schoben sich zwischen Klumpen faulenden, braunen Laubs hervor. Leah musste an »Der geheime Garten « denken, eines ihrer Lieblingsbücher, als sie noch klein gewesen war. Selbst wenn sich niemand um den Garten kümmerte, würde er sich trotz des angewehten toten Laubs, das an manchen Stellen knöchelhoch lag, bis zum Sommer in einen üppigen Dschungel verwandeln. Pflanzen brauchen viel weniger Hilfe, um zu gedeihen, als manche Gärtner vielleicht gern glauben, dachte Leah. Sie ließ den Blick über die Fassade neben der Tür gleiten. Der Holzrahmen des nächst gelegenen Schiebefensters war vollkommen durchgefault. Die Farbe bestand nur noch aus halb abgeplatzten Schuppen, der Kitt um die Scheiben fast völlig herausgebröckelt. Hier und da wuchsen aus dem feuchten Holz Rüschen aus schmierig aussehendem, orangerotem Pilz. Leah zuckte zusammen, als die Tür von innen entriegelt wurde.
Mark öffnete sie mit einem kräftigen Ruck, bei dem das Holz zu schaudern schien.
»Das verflixte Ding hat bei feuchtem Wetter schon immer geklemmt. Kommen Sie rein ins Trockene«, sagte er. Er hatte sich rasiert, fiel ihr auf, und sich das Haar gewaschen. Zwar wirkte er immer noch erschöpft, aber ruhiger als bei ihrer letzten Begegnung.
»Danke. Ich habe gerade den Garten bewundert«, entgegnete sie und deutete mit einem Lächeln an, dass das keinesfalls als Kritik gemeint war.
Mark verdrehte die Augen gen Himmel. »Ich weiß. Hier ist alles ziemlich verlottert, nicht nur der Garten. Mein Vater hat viel zu lange zugesehen, wie ihm alles über den Kopf gewachsen ist. Ich hätte ihm mehr helfen sollen, aber Sie wissen ja, wie das ist. Das Leben kommt einem ständig in die Quere. Jetzt steht das Haus seit einem halben Jahr leer. Seit Dad …« Er zögerte.
»Sie haben Ihren Vater verloren? Das tut mir sehr leid«, sagte Leah sanft.
»In gewisser Weise ja. Kommen Sie rein.« Leah trat in den Flur, der großzügig, aber düster war. Sie blickte nach oben – keine Glühbirne in der nackten Fassung, die von der Decke baumelte. Spinnen hatten einen Kegel aus staubigen Netzen um das Kabel gewoben. Die Luft war unglaublich still, als sei ein Bewohner nicht genug für dieses Haus, viel zu wenig, um es mit Leben zu erfüllen. Es roch nach feuchtem Putz und kalten, schmuddeligen Bodenfliesen, und die winterliche Kälte schien sich hier noch hartnäckiger zu halten als draußen im Regen. »Ich bitte Sie lieber nicht, Ihren Mantel abzulegen – Sie werden ihn brauchen«, bemerkte Mark trocken, als hätte er ihre Gedanken gelesen.
»Alte Häuser können richtig eisig werden.« Sie verzog mitfühlend das Gesicht.
»Vor allem dieses. Der Boiler hat den Geist aufgegeben. Der einzige warme Raum im ganzen Haus ist die Küche – ich habe es geschafft, den Ofen einzuheizen. Kaffee?«
»Ja, gern.«
Sie gingen einen Flur entlang in den hinteren Teil des Hauses, wo das Licht aus der Küche ihr warm entgegenschien. Leah
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