Das Haus der vergessenen Träume: Roman (German Edition)
spähte in unbezwingbarer Neugier durch halb geöffnete Türen und in Ecken und Winkel. Es sah aus, als wäre hier seit zwanzig oder gar dreißig Jahren nichts mehr verändert worden. Auf den Sofas und Sesseln im Wohnzimmer hatten viele Jahre des Gebrauchs tiefe Kuhlen in den platt gesessenen Polstern hinterlassen. Auf den wild durcheinandergewürfelten Möbeln – hauptsächlich dunkle Eiche, die Leah seit jeher als bedrückend empfand – lag eine dicke Staubschicht. Die abgegriffenen Auto- und Anglerzeitschriften in einem Zeitungsständer waren gut zehn Jahre alt. Die Schirme der Tisch- und Leselampen waren verblasst, ausgeblichen von der Sonne vergangener Sommer. Sie ging über Teppiche, die so fadenscheinig und abgewetzt waren, dass die ursprünglichen Muster und Farben nicht mehr zu erkennen waren, sondern nur noch das Geflecht von Kette und Schuss. Mark blickte über die Schulter zurück und ertappte sie bei ihrer Begutachtung.
»Ich hoffe, Sie sind nicht allzu entsetzt. Mein Vater ist von der altmodischen Sorte. Er hat nie eingesehen, warum man etwas ersetzen sollte, das noch brauchbar ist. Und in den letzten paar Monaten, die er hier gewohnt hat, hätte er gar nichts mehr renovieren können.«
»Ich bin überhaupt nicht entsetzt«, entgegnete Leah hastig. »Ich bin nur furchtbar neugierig auf dieses Haus. Ich habe die Briefe, die Ihre Urgroßmutter hier geschrieben hat, so oft gelesen …«
»Haben Sie sie dabei? Ich würde sie auch gern lesen«, sagte er und rückte ihr einen Stuhl am Küchentisch zurecht.
»Natürlich.« Leah kramte in ihrer Tasche.
»Hat keine Eile. Erst einen Kaffee.« Er füllte einen zerbeulten Metallkessel und stellte ihn auf die Kochplatte. Ne ben dem Ofen stand ein Kohleneimer, an dessen Rand schwarzer Staub glitzerte. Der beißende, rußige Kohlengeruch erfüllte den Raum, und die klebrige Arbeitsplatte war mit einer feinen Schicht Rußpartikel gesprenkelt. An der Wand gegenüber stand ein langes, durchhängendes, grünes Sofa mit einem unordentlichen Haufen Decken an einem Ende, und den Couchtisch davor teilten sich ein kleiner Fernseher und mehrere benutzte Becher. Die Einbauküche war ebenso altmodisch wie der Rest der Einrichtung – Arbeitsfläche aus Vinyl im Marmor-Dekor, Fronten in Buchenfurnier. Mark rüttelte an einer Schublade und biss dabei verärgert die Zähne zusammen. Nach einer Weile gab er es auf, schob die Hand bis zum Handgelenk durch den schmalen Spalt und zog mit zwei Fingern vorsichtig einen Kaffeelöffel heraus. »Jetzt verstehen Sie sicher, warum ich fand, dass ich mich hier gut verstecken könnte«, sagte er grimmig. Leah überlegte, ob sie ihn auf die Zeitungsartikel ansprechen sollte, die sie gelesen hatte. Sie warf einen verstohlenen Blick auf sein verhärmtes Gesicht und ließ es bleiben. Eine solche Anspannung stand in seinen grauen Augen – sie wusste, dass sie ihn sehr vorsichtig anfassen musste. Aber angeblich war ja alles vorbei, zumindest der Gerichtsprozess. Er war freigesprochen worden, und dennoch verhielt er sich, als wartete er immer noch auf irgendeine Art Urteil.
»Das muss früher einmal ein wunderschönes Haus gewesen sein. Ich meine, das ist es natürlich noch, also …« Sie geriet ins Stocken.
»Keine Sorge. Mir ist bewusst, dass es in einem erbärmlichen Zustand ist. Das Pfarrhaus war in kleinen Orten wie diesem früher oft das prächtigste Gebäude, abgesehen vom Herrenhaus, versteht sich. Damals, als der Pfarrer nach dem Grundherrn die zweitwichtigste Persönlichkeit war.«
»Wie ist das Haus in Ihrer Familie geblieben, als es dann nicht mehr das eigentliche Pfarrhaus war?«
»Ich weiß es nicht genau. Meine Urgroßeltern müssen es der Kirche wohl irgendwann abgekauft haben.« Er zuckte mit den Schultern.
»Haben Sie irgendwelche Kindheitserinnerungen an sie? An Hester Canning, meine ich?«
»Nein, tut mir leid, sie ist noch vor meiner Geburt gestorben. Aber an meinen Großvater Thomas kann ich mich erinnern – Hesters Sohn. Er ist allerdings auch gestorben, als ich noch klein war.«
»Dann haben Ihre Eltern dieses Haus also geerbt. Sind Sie hier aufgewachsen?«
»Nein, nein. Es ist an meinen Onkel und meine Tante gegangen. Mein Cousin und meine Cousine haben als Kinder hier gewohnt. Ich war manchmal zu Besuch da – ein paarmal in den Weihnachtsferien. Dad hat das Haus erst geerbt, als mein Onkel vor etwa zehn Jahren gestorben ist.«
»Keines von dessen Kindern?«
»Mein Cousin ist mit zweiundzwanzig bei einem
Weitere Kostenlose Bücher