Das Haus der vergessenen Träume: Roman (German Edition)
kam. Da war eine Nachricht von Ryan. Ihr Herz machte einen übertriebenen Satz. Sie holte tief Luft – jeder Kontakt, der von ihm ausging, rief diese grässliche Reaktion in ihr hervor – und öffnete die E-Mail.
Was denn, kein Abschied? Sieht Dir gar nicht ähnlich – früher mochtest Du Abschiedsszenen immer besonders. Danke, dass Du das kleine Projekt angenommen hast, ich weiß es zu schätzen. Unser toter Kamerad hier sicher auch. Er ist ein bisschen aufs Abstellgleis geraten, seit Du weg bist, zurück in die Kühlkammer, um genau zu sein. Wir haben eine frische Ladung von der Baustelle einer neuen Wohnanlage reingekriegt – an Leichen herrscht hier wirklich kein Mangel, das kann ich Dir sagen. Na ja, unsereins muss ja auch irgendwie sein Taschengeld verdienen. Lass mich mal wissen, wie’s so vorangeht. Ich komme in zwei Wochen zu Dads Sechzigstem nach Hause. Vielleicht können wir uns dann ja mal treffen, und Du zeigst mir, was Du herausgefunden hast? Es war schön, Dich hier drüben wiederzusehen. Ehrlich. Obwohl Du Dich von mir zum Abendessen hast einladen lassen und dann nicht zum Frühstück geblieben bist.
Melde Dich mal.
Ryan
Leah las die E-Mail zweimal und schob dann den Cursor zornig auf das Mülleimer-Icon. Ihr Finger hing leicht zitternd über der Maustaste. Nach ein paar Sekunden seufzte sie und bewegte den Cursor wieder weg, loggte sich stattdessen aus und suchte nach Cold Ash Holt Feen Fotos . Diverse Esoterik-Websites wurden angezeigt, und etwa auf halber Höhe der Ergebnisliste auch die Website von Cold Ash Holt. Sie öffnete sie, ignorierte Neuigkeiten der Kirche und die Werbung ortsansässiger Betriebe und klickte auf Geschichte . Zwei Absätze zeichneten die Geschichte des Ortes nach, von seinem mageren Eintrag im historischen Reichsgrundbuch bis hin zum Niedergang der Kanal-Schifffahrt und dem Zweiten Weltkrieg. Es gab Schwarz-Weiß-Fotos von der Kirche und längst verstorbenen Landarbeitern bei der Heuernte, die auf ihre Heugabeln gestützt in die Kamera schauten. Leah starrte mit dieser besonderen Faszination, die alte Fotos unbekannter Menschen stets auf sie ausübten, in die Gesichter: die Augen von Schatten verhüllt oder von der Auflösung verwischt – nur weiße Körnchen oder eine stahlgrau erscheinende Iris. Als die Bilder entstanden waren, hatten die Leute darauf nicht einmal ahnen können, dass sie achtzig Jahre später in einem Café sitzen und ihre Gesichter betrachten würde. Ihre Leben, ihre Gedanken waren für immer verloren. Ganz unten auf der Seite stand in einem eigenen Absatz:
Die vielleicht ungewöhnlichste Episode in der Geschichte von Cold Ash Holt drehte sich um eine Reihe von Fotografien, die angeblich Feen auf den Feuchtwiesen am Rand des Dorfes zeigten. Sie stammten von einem der führenden Spiritisten jener Zeit, Robin Durrant, der zu kurzzeitiger Berühmtheit gelangte, als die Auf nahmen 1911 veröffentlicht wurden. Sowohl in spiritistischen Kreisen als auch in der allgemeinen Presse galten sie weithin als echt. Später wurden sie jedoch als Fälschungen entlarvt, obwohl der damalige Pfarrer von Cold Ash Holt, Albert Canning, unbeirrt an die Echtheit der Fotografien glaubte. Gibt es also Feen auf unseren Wiesen? Schauen Sie doch selbst einmal nach!
Darunter waren zwei körnige Schwarz-Weiß-Fotos. Das erste zeigte eine große, ebene Wiese, bedeckt mit einem Teppich aus Sommergräsern und Disteln, mit hohen Bäumen, die im Hintergrund verschwammen. In der Mitte des Bildes stand ein einzelner Baum, anscheinend eine alte Trauerweide mit knorrigem, krummem Stamm und silberhellen Blättern. Der leicht ansteigende Boden ließ vermuten, dass sie an einem Bachlauf stand, dessen Wasser aber hinter dem hohen Gras verborgen blieb. Rechts von dem Baum war eine kleine, leicht verschwommene Gestalt zu erkennen. Sie war weiblich und offenbar im Sprung oder beim Tanzen aufgenommen worden: in einem wilden Satz, mitten in der Luft, Arme und Kopf selbstvergessen nach hinten geworfen. Ihr Haar – so hell, dass es beinahe weiß erschien – wehte lang und ungezähmt hinter ihr her. Das Gesicht war undeutlich, die Züge kaum zu erkennen – nur ganz leicht standen die zarte Nase und das Kinn hervor. Die Haut war sehr, sehr blass, die Augen offenbar geschlossen. Es war schwierig, die Größe richtig einzuschätzen, denn die Weide daneben hätte drei Meter groß sein können oder fünf, das Gras zwanzig Zentimeter oder einen Meter hoch. Das Foto hatte irgendetwas leicht
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