Das Haus der vergessenen Träume: Roman (German Edition)
unsichtbaren Partner Walzer tanzen. Sie denkt daran, wie sie sich fühlte, als sie zum ersten Mal mit dem Fahrrad des Pfarrers zu Georges Kahn gefahren ist. An den Wind, der ihr kräftig übers Gesicht strich, an das Blut, das schneller in ih ren Adern pulsierte, an das erregende Erlebnis, sich so schnell fortzubewegen. Sie denkt an Tess im Armenhaus, und an den Gentleman, der sie nicht gerettet hat. Cat holt zittrig Atem, und ihr ist heiß vor Zorn.
Sie breitet die Arme aus und springt, so hoch sie kann, biegt den Rücken durch und wirft den Kopf zurück. Sie landet schwer auf kurzen Grashalmen, die ihr in die Füße stechen. Nach einer kurzen Pause holt sie tief Luft, rennt los, nimmt Anlauf und springt noch einmal. Und obwohl sie sich zunächst albern dabei vorkommt und glaubt, die ganze Welt müsse über sie lachen, weil sie hier herumhüpft wie eine Närrin, vergisst sie all das bald. Ihr Herz pocht, sie gerät außer Atem, weil sie so rennt und springt, das vordere Knie anwinkelt, den Fuß nach hinten streckt, die Arme weit ausbreitet oder nach hinten reckt oder hoch über den Kopf. Sie stürmt und wirbelt und springt und findet eine Art Freiheit darin, den Anstand so in den Wind zu schlagen und zu spüren, wie ihre Muskeln brennen und die Luft ihr durch Mund und Nase rauscht. Sie zertrampelt sie alle unter ihren Füßen – Robin Durrant, den Gentleman, Mrs. Heddingly, Hester Canning. Sie tanzt, bis sie die Kraft verlässt, dann lehnt sie sich an den alten Baum, um sich auszuruhen. Robin Durrant und seine Kamera hat sie schon beinahe vergessen. Aber sie tanzt weiter, und dieselbe jubelnde Freude an der Bewegung erwacht erneut in ihr – eine Ahnung von Leben und Freiheit. Als sie schließlich innehält, schwirrt die Seejungfer neugierig um sie herum. Ihre Flügel summen, und der Körper blitzt blau auf, als die ersten Sonnenstrahlen sich über den Himmel strecken. Sie kommt wieder zu Atem, und ihr wird bewusst, dass sie gar nicht hustet. Nicht husten muss. Sie lächelt, bis sie aus den Augenwinkeln sieht, dass Robin Durrant aufsteht und langsam die Kappe auf die Kameralinse schraubt.
Cat wird bang ums Herz, sie lässt die Arme sinken, und die Libelle schießt davon und verschwindet im rasch anbrechenden Tag. Sie zieht sich die Perücke vom Kopf, fährt sich mit den Fingern durch das verschwitzte Haar und geht zu ihm hinüber.
»Das war ganz großartig. Du hast einfach umwerfend ausgesehen. Sehr schön, Cat«, sagt Robin zu ihr, und seine Stimme klingt völlig anders, beinahe respektvoll. Cat wendet den Blick ab und hält ihm die Perücke hin.
»Eine Lüge kann niemals schön sein«, erwidert sie kalt. »Kann ich jetzt gehen?«
»Ja«, sagt er milde. »Ja, wir sollten zurückgehen, ehe dich jemand vermisst.«
»Sie haben auch noch Wichtiges zu tun«, bemerkt Cat sarkastisch und weist mit einem Nicken auf die Kamera.
»Du darfst mit niemandem darüber sprechen, Cat. Kein Wort. Nicht einmal mit dem Mann, der dich selbst bei Gewitter nach draußen zieht. Ab jetzt müssen wir gegenseitig unsere Geheimnisse hüten«, sagt er in eigenartig kame radschaftlichem Tonfall. Cat wirft ihm einen angewiderten Blick zu und geht ein paar Schritte voraus, um ihn nicht sehen zu müssen. Ein seltsames, verzweifeltes Gefühl ballt sich in ihrer Magengrube zusammen. Auf einmal fühlt sie sich machtlos, ausgeliefert. Sie hat das Gefühl, dass sie von dem, was sie und Robin Durrant eben getan haben, nie wieder ganz frei sein wird.
8
2011
Leah fuhr bis nach Newbury, um ein gemütliches Café mit kostenlosem Internet-Zugang zu finden. Der Himmel mit seinen tief hängenden Wolken wirkte schon den dritten Tag in Folge verdrießlich, und sie betrachtete stirnrunzelnd die Straße, während sie mit dem Wagen dahinkroch, an einer Ampel nach der anderen halten musste und grauen Matsch unter den Reifen knirschen hörte. Das Café, das sie schließlich entdeckte, gehörte zu einer Kette, die sie kannte. Drinnen holte sie sich eine große heiße Schokolade, machte es sich in einer Sofaecke gemütlich und schaltete ihren Laptop ein. Ihre Fingerspitzen waren gerötet und taub vor Kälte. Der Wind schleuderte Schneeregen an die Fensterscheiben, die mit nassen Kristallen verschmiert waren, und auf dem Boden glänzten wässrige Schuhabdrücke. Es stank nach nassen Mänteln und nassem Haar und der Ansammlung nasser Regenschirme neben der Tür. Leah sah ihren Posteingang durch und fand nichts Interessantes, bis sie zu den E-Mails vom Vortag
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