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Das Haus der vergessenen Träume: Roman (German Edition)

Das Haus der vergessenen Träume: Roman (German Edition)

Titel: Das Haus der vergessenen Träume: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Webb
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seine letzte Waffe, das Letzte, worüber er selbst bestimmen konnte. Für Cat ist es ihre Stimme. Voller Angst und rasender Wut schreit sie die Tür an, bis ihre Kehle schmerzt, sie brüllt gegen das Wummern in ihrem Kopf an. Sie wird keinen Augenblick Ruhe finden, und das restliche Haus auch nicht. Sie hämmert mit den Fäusten gegen das Holz, stampft mit den Füßen auf die Dielen, flucht und schimpft und schluchzt. Sie glaubt, sie sei laut, zu laut, als dass irgendjemand sie überhören könnte. Doch als sie schließlich ermattet auf den Boden niedersinkt, hört sie Sophie Bell leise schnarchen, zwei Türen weiter den Flur entlang.
    Also setzt sie sich, als sie zu erschöpft ist, um weiterzukämpfen. Sie lehnt sich mit dem Rücken an die Tür, und die rauen Bodendielen reißen die Haut an der Rückseite ihrer Oberschenkel auf. Ihre Kehle brennt, ihr Kopf ist von engen Bändern aus Spannung und Schmerz umschlossen. Sie versucht, an George zu denken, daran, wie sie sich fühlt, wenn sie bei ihm ist. An das Leben, das er ihr einzuhauchen scheint, an ihre Seele, die er geduldig aus dem harten Kern in ihrem Inneren hervorlockt durch sein Lächeln, dadurch, wie er sich anfühlt, wie er schmeckt. Sie versucht, an ihre Mutter zu denken, wie sie vor der Schwindsucht war, oder an Tess an jenem Nachmittag, als sie sich zu ihrer ersten Versammlung davonschlichen – ihre Freude, die ihr Gesicht so prachtvoll strahlen ließ wie einen Regenbogen. Doch die Gedanken wollen nicht bleiben und sie trösten. George entgleitet in den Schatten, eine bloße Silhouette wie eine ferne Erinnerung. Ihr bleibt nur sein Umriss, als hätte er stets die blendende Sonne im Rücken. Krankheit und Tod holen ihre Mutter, und erst das Gefängnis und nun das Armenhaus holen Tess. Cat sitzt wieder in ihrer Zelle mit den kalten, klammen Wänden, dem Gestank von Pisse und Kacke aus dem Eimer in der Ecke und den Läusen, die über ihre Kopfhaut kriechen und sie vor Juckreiz verrückt machen. Sie waren in ihrem Bettzeug – im Matratzendrell und in den Säumen und Nähten der dünnen Decken. Cat hat nicht daran gedacht, sie zu überprüfen, denn sie war noch nie zuvor irgendwo gewesen, wo Läuse so zahlreich auf der Lauer lagen – wachsgraue Punkte, die über Unachtsame herfielen. Die Mauern waren feucht, und dicker Schimmel kroch daran empor und färbte den Mörtel schwarz.
    Die Mädchen aus der Arbeiterklasse wurden nicht so sanft behandelt wie ihre Kameradinnen aus der Mittel- und Oberschicht. Keine Privilegien, keine kleinen Annehmlichkeiten. Sie durften keine Briefe schreiben oder ihre eigene Kleidung tragen. Nur einmal am Tag gestattete man ihnen, ihre Zellen für eine Stunde zu verlassen, um sich auf einem engen, gepflasterten Hof ein wenig zu bewegen. Cat und Tess gingen immer zusammen, dicht aneinandergedrängt und mit verschlungenen Händen. Cat versuchte, Tess zum Lachen zu bringen, indem sie ihr ein wenig Klatsch erzählte, wilde Geschichten über die Wärterinnen und die anderen Gefangenen erfand und ihr die ungeheuren Mengen an Kuchen schilderte, die sie nach ihrer Entlassung essen würden. Eine der Wärterinnen fürchteten die Frauen ganz besonders. Sie war ganz dünn und drahtig, nur Sehnen und Knochen, ohne die geringste Andeutung von Kurven an Hüften oder Büste, die sie vielleicht ein wenig weicher hätten erscheinen lassen. Sie hatte dunkles Haar, das sie streng zurückgesteckt trug, kalte blaue Augen, graue, dünne Lippen, die sich an den Mundwinkeln zu einem Ausdruck verzogen, der nichts mit Fröhlichkeit zu tun hatte, und eine scharfe, spitze Nase. Nach dieser hatte Cat ihr den Spitznamen »die Krähe« gegeben, und in den langen, einsamen Stunden der Einzelhaft dichtete sie Spottverse auf die Frau, die sie dann beim Hofgang Tess vorsang. Tess lachte nicht, brachte aber meist ein Lächeln zustande. Ihre Augen waren immer verweint, gerötet und verquollen.
    Die Wärterinnen schlugen sie für die geringste Aufsässigkeit – deren man sich schuldig machte, indem man zu langsam ging oder zu schnell, indem man zu viel hustete oder schimpfte, fluchte, pfiff, sang oder Widerworte gab. Am zweiten Vormittag ihrer dreimonatigen Haftstrafe hatte Cat, die noch nie im Leben geschlagen worden war, bereits eine aufgesprungene Lippe und einen wackelnden Zahn dahinter. Rasch wurde die Parole ausgegeben, dass sie mit einem Streik gegen diese Behandlung protestieren müssten. Das war schließlich ihre Art – als Suffragetten. Von Rechts wegen

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