Das Haus der vergessenen Träume: Roman (German Edition)
sich unwillkürlich die Hand vor den Mund schlug. Da war sie, ganz unvermittelt: Die Story erstreckte sich über ein paar Wochen bis in den Herbst. Sie las einmal, ein zweites Mal, versuchte, die wichtigsten Fakten in ihrem Notizbuch festzuhalten, doch sie konnte nur wild und fahrig kritzeln, und ihre Handschrift war selbst für sie nur schwer leserlich. Schließlich gab sie es auf, zückte ihr Handy, ignorierte den finsteren Blick und das tadelnde Zungenschnalzen der Frau am benachbarten Lesegerät und wählte Marks Nummer.
»Leah? Hast du etwas gefunden?«, meldete er sich, und in seiner abgehackten Sprechweise erkannte sie etwas von derselben Zwiespältigkeit, die sie selbst am Morgen verspürt hatte.
»Ich habe alles gefunden, Mark. Es ist alles hier! Und Fotos … wunderbare Bilder von Hester und Albert, und von dem Theosophen … Alles!«
»Du meinst, es ist tatsächlich etwas Schlimmes passiert? Wann?«
»In diesem Sommer – dem Sommer, den Hester in ihren Briefen erwähnt. Sommer 1911«, berichtete Leah mit vor Aufregung erstickter Stimme. »Und ich glaube … ich glaube, ich weiß, warum unser Soldat gerade diese beiden Briefe von Hester aufbewahrt hat.«
»Leah – nun sag schon, was passiert ist! Hat es tatsächlich einen Mord gegeben?«
»O ja, allerdings. Einen grausigen und brutalen Mord sogar.«
11
4. August 1911
Liebste Amelia,
wie sehr ich mir wünsche, Du wärest noch hier, um mir zu helfen und Kraft zu geben. Dieses Haus ist kein angenehmes Heim mehr. Ich weiß nicht recht, wo ich beginnen soll. Albert. Albert ist nicht mehr er selbst. Er ist mir fremd geworden, distanziert und so gefesselt von seinem Verlangen, diese leidigen Elementare noch einmal zu sehen, dass in seinem Herzen und Verstand kein Platz mehr für mich ist, und auch nicht für die Gemeinde, seine Pflichten oder sonst irgendetwas. Er isst kaum, will keinerlei Fleisch mehr anrühren, und ich habe ihn seit Tagen nicht mehr schlafen sehen. Inzwischen treibt er sich oft vor den Gasthäusern und Wirtschaften in der Umgebung herum und hält den Vorübergehenden Predigten über ihre zahlreichen Sünden. Ach, Amy! Ich finde das alles äußerst verstörend. Und ich kann diese besorgniserregenden Veränderungen nur auf eine einzige Ursache zurückführen – Mr. Robin Durrant. Der nun seit so vielen Wochen schon bei uns wohnt, jedoch nicht das Geringste zu unserem Haushalt beiträgt. Als ich das Bertie gegenüber erwähnte, schien er es beinahe komisch zu finden. Mich komisch zu finden. Er spricht von Mr. Durrant als »unserem geschätzten Gast«, und glaube mir – höher könnte er den Mann gar nicht mehr schätzen. Was immer Mr. Durrant vorschlägt, Albert ist damit einverstanden. So einfach ist das. Es kommt mir beinahe so vor, als hätte mein lieber Mann keinen eigenen Verstand mehr!
Cat, unser Dienstmädchen, ist ebenfalls ganz aufgelöst. Albert hat sie in einem Pub in Thatcham gesehen und wollte sie wegen dieses Vergehens entlassen. Ich habe protestiert und mich für sie eingesetzt, weil ich sie mittlerweile wirklich gern habe und sehr schätze. Doch erst als Robin Durrant ein gutes Wort für sie einlegte, durfte sie bleiben. Albert besteht allerdings darauf, dass sie nachts in ihrem Zimmer eingeschlossen wird, was auch geschieht. Aber seit ihrem Gefängnisaufenthalt in London erträgt sie es offenbar einfach nicht, eingesperrt zu sein, und jedes Mal, wenn sich die Tür schließt, gerät sie völlig außer sich. Ich halte diese Maßnahme für grausam und überflüssig, aber Albert besteht darauf, und in diesem Fall hält Mr. Durrant es nicht für nötig, ihm zu widersprechen. Vielleicht findet er es unterhaltsam, sie vor Leid schreien und weinen zu hören. Ach, ich weiß! Ich weiß, dass ich abscheuliche Dinge über ihn schreibe, aber ich muss auf einmal feststellen: Ich traue ihm nicht, ich kann ihn nicht leiden, und ich will ihn nicht mehr im Haus haben!
Cat hat einen Liebsten im Ort. Deshalb hat sie sich abends oft davongeschlichen – um sich mit ihm zu treffen. Als sie das zugab, dachte ich zuerst, es sei Robin Durrant. Ich habe die beiden zusammen gesehen, draußen auf dem Hof. Sie unterhielten sich sehr vertraut miteinander. Doch er behauptet, nichts davon zu wissen, und eigentlich kann ich mir auch kaum vorstellen, dass Cat sich zu ihm hingezogen fühlt. Vielleicht empfinde ich deshalb solches Mitgefühl für sie, denn wenn sie diesen Mann so sehr liebt, wie ich Bertie liebe, dann ist es umso grausamer und
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