Das Haus der vergessenen Träume: Roman (German Edition)
Puls noch immer rast. Cat bleibt still stehen und beobachtet sie. Hester wirft ihr einen Blick zu, und wieder überkommt sie dieses Unbehagen. »Warum läufst du denn hier im Dunkeln herum? Warum hast du keine Lampe mitgenommen oder das Licht eingeschaltet?«, fragt sie. Cat blinzelt und sieht sie ruhig an.
»Ich kann recht gut im Dunkeln sehen«, antwortet sie.
»Black Cat«, murmelt Hester. Der Spitzname ist ihr einfach entschlüpft. Sie sieht, dass Cat ganz steif wird.
»Wo haben Sie das gehört?«, fragt das Mädchen abrupt. Hester schluckt nervös.
»Ach, nirgends … Entschuldigung, Cat. Ich wollte dich nicht … Danke, dass du mir die Jacke gebracht hast. Bitte geh jetzt ruhig ins Bett. Ich werde heute nichts mehr benötigen«, entgegnet sie hastig.
»Ich bringe Ihnen den Kakao, sobald er fertig ist«, widerspricht Cat ihr.
»Ach ja, natürlich. Natürlich. Danke, Cat. Entschuldigung.« Hester zieht sich in ihr Zimmer zurück und weiß selbst nicht recht, wofür sie sich eigentlich entschuldigt. Cat steht noch immer im dunklen Flur, als Hester die Schlafzimmertür hinter sich schließt.
Albert kommt bald darauf nach Hause und wirkt geistesabwesend. Unsicher tätschelt er Hesters Schultern, als sie sich in seine Arme stürzt, sobald er das Schlafzimmer betritt.
»Albert! Ich bin so froh, dich zu sehen«, murmelt sie an seiner Brust.
»Fühlst du dich nicht wohl, Hetty?«
»Doch, doch. Es ist nur … das Gewitter. Ich habe mich auf dem Heimweg davor gefürchtet, weiter nichts«, antwortet sie atemlos. »Ich musste eine Tasse Kakao trinken, um mich wieder aufzuwärmen.«
»Aber vor dem Wetter brauchst du dich doch nicht zu fürchten. Wie der heilige Paulus schrieb: ›Er macht Seine Engel zu Winden und Seine Diener zu Feuerflammen.‹ Im Sturm bewegen sich lebende Geister, Gottes Engel lenken die Wolken, und der mächtige Donnerschlag mag vom Druck der Schallwellen in der Luft verursacht sein, wie die modernen Wissenschaftler uns erklären, doch er ist viel mehr als das – er ist die Stimme Gottes!« Albert lächelt mit strahlenden Augen. Hester erwidert sein Lächeln, unsicher, was sie dazu sagen soll.
»Gehen wir zu Bett. Es ist so kalt heute Nacht«, schlägt sie vor.
»Schön. Es ist schon recht spät – ich werde nicht mehr lange lesen.« Er hat es sich zur Gewohnheit gemacht, jeden Abend mindestens eine halbe Stunde lang in der Bibel zu lesen. Das tut er in stiller Konzentration wie ein Schüler, der weiß, dass eine Prüfung bevorsteht.
Als Albert endlich das Buch zuklappt und mit der Brille darauf auf dem Nachttisch ablegt, schaut Hester ihn an. Er knipst seine Lampe aus, rutscht im Bett ein Stück herab und faltet die Hände auf der Brust. Doch seine Augen bleiben offen. Hester lässt ihre Lampe an und dreht sich zu ihm hin. Das Unwetter hat nachgelassen, aber noch immer heult der Wind und lässt den Regen gegen die Fensterscheiben prasseln. Der Raum, nur von Hesters Nachttischlampe erleuchtet, wirkt wie ein behaglicher Kokon, der sie vor der wilden Nacht schützt. Vielleicht liegt es daran oder auch an dem Schrecken, den sie erlebt hat, jedenfalls verspürt Hester ein großes Bedürfnis nach Trost. Sie sehnt sich danach, von ihrem Mann berührt und im Arm gehalten zu werden. Sie betrachtet sein weiches Gesicht, den warmen Schimmer seiner Haut, leicht gebräunt durch die vielen Stunden, die er im Freien verbringt.
Sie haben noch nie nackt beieinandergelegen, er auf ihr oder umgekehrt. Noch nie hat sich seine Haut an ihre Brust gepresst, und beim Gedanken daran wird Hesters Kehle trocken, und ihr Herz pocht laut. Wortlos rückt sie näher an Albert heran, bis sie die Wange an seine Schulter schmiegen kann. Er rührt sich nicht und sagt kein Wort. Er kann nicht behaupten, müde zu sein, denn es ist offenkundig, dass sein Geist heute Nacht außerordentlich wach ist. Als nach einer Minute kein Protest gegen ihre Berührung erfolgt ist, hebt Hester leicht den Kopf. Albert ist so nahe, dass sie seine Züge nur verschwommen sehen kann. Sein Gesicht ist ein sahnig-heller Fleck, weiche Schattierungen von Gold, Braun und Milchweiß im gedämpften Licht. Sein Geruch erfüllt ihre Sinne. Die Seife, mit der er sich rasiert, und die leichte Schärfe seiner Haut darunter.
»Oh, Albert«, haucht sie, und all ihre Liebe und ihr Begehren drängen in diesen drei Silben aus ihr hervor und lassen ihre Stimme tiefer, volltönender klingen. Sie streicht mit den Händen über seine Brust, drückt sie gegen den
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