Das Haus der vergessenen Träume: Roman (German Edition)
Die Blicke aller zwölf Frauen richten sich auf Hester.
»Nun ja, da wäre meine Großtante Eliza. Sie ist vor vier Jahren verstorben, an der Gicht«, gibt Hester zu.
»Das ist es! Sie war es also – sie muss es gewesen sein!«, ruft Esme aus. »Oh, Mrs. Canning! Seien Sie vorsichtig – bitte hören Sie auf ihre Warnung, ja? Dass ein Quell des Bösen Ihr Haus betreten hat und finstere Zeiten über Sie bringen wird … Arme Mrs. Canning! Geben Sie acht!«
»Nicht doch, Esme. Beruhige dich«, ermahnt Mrs. Avery die junge Frau, die sich mit dem Zipfel ihres Taschentuchs die Augen tupft. »Ich bin sicher, dass im Haus eines Pfarrers, immerhin ein Mann Gottes, nichts wahrhaft Böses Fuß fassen kann. Habe ich nicht recht, Mrs. Canning?«
»Ja, natürlich«, antwortet Hester. Den restlichen Abend spürt sie immer wieder Blicke auf sich gerichtet und ertappt ihre Freundinnen mit mitleidigen oder erstaunten Mienen. Sie lächelt öfter, als sie es sonst vielleicht getan hätte, um die Angelegenheit herunterzuspielen, doch für sie ist der gesellige Abend verdorben, denn hinter dieser Fassade verbirgt sich tiefes Unbehagen. Sie denkt an Cat Morleys schwarze Augen, hinter denen finstere Gedanken so gut verborgen bleiben, an die dunklen Ringe unter ihren Augen und ihren ausgemergelten Körper – als fräße irgendein Unheil das Mädchen von innen auf.
Auf dem Heimweg fragt Hester sich besorgt, ob Mrs. Avery sie je wieder zu einer Gesellschaft einladen wird. Zweimal hat Hester gelogen, an einem einzigen Abend – aber beim zweiten Mal war das doch zweifellos richtig von ihr? Sie hatte sich dafür entschieden, keine Einzelheiten über Cats Vergangenheit preiszugeben – und sie weiß mehr, als sie behauptet hat, wenn auch nicht viel mehr. Diesem Schwur ist sie treu geblieben. Donner grollt, als rollten schwere Felsbrocken über den Himmel, und die starken Windböen peitschen die frühlingshaften Zweige, reißen Blätter von den Blüten und schütteln Pollen heraus. Es beginnt zu tröpfeln. Hester zieht ihren Mantel enger um sich und kämpft eine Weile mit ihrem Regenschirm, gibt jedoch auf, da der Wind ihn zu zerfetzen droht.
Der Himmel hängt so tief und schwer, dass der Weg kaum zu erkennen ist. Nur der schwache gelbe Lichtschein aus den Fenstern der Häuser leuchtet ihr den Weg, und auch dieser erlahmt, als sie das Dorf durchquert hat und das letzte Stück Wegs zum Pfarrhaus vor ihr liegt. Hester späht in die Dunkelheit zwischen Bäumen und Hecken und strengt alle ihre Sinne an, wie vorhin bei der Séance. Die schwarzen Schatten scheinen sie zu beobachten, und sie meint, Stimmen und geflüsterte Worte im Wind zu vernehmen. Zitternd hält sie inne. Ihre Knie fühlen sich schwach und wackelig an. Der Wind umtost sie, zerrt an Haar und Nadeln und droht ihr den Hut vom Kopf zu reißen. Sie hält ihn mit einer Hand fest und kneift gegen den beißenden Regen die Augen zusammen. Unmittelbar vor der Gartenmauer ihres Grundstücks steht eine mächtige Rosskastanie, bei Tag schimmern ihre bereits voll entfalteten Blätter, breit und jung, in sanftem Grün. Ein Blitz taucht den Baum in die grauen Farbtöne der Unterwelt, und da, am Baumstamm, wird plötzlich eine reglose Gestalt sichtbar. Hester stockt der Atem. Es ist nicht mehr zu sehen als ein schwarzer Umriss, eine starre Silhouette, aber sie beobachtet Hester eindeutig mit unerbittlicher Geduld. Hester will aufschreien, doch ihre Stimme erstickt. Sie steht da wie erstarrt und denkt an den zornigen Geist, den sie gemeinsam beschworen haben, und an die grausige Warnung vor dem Bösen, die ihr gegolten haben könnte. Einen Moment lang kann sie nicht denken, sich nicht rühren, und ist stocksteif vor Entsetzen. Dann stößt sie einen leisen Schreckensschrei aus und flieht zu ihrem sicheren Haus, und ihr Herz hämmert, als ob es bersten wolle.
Cat wartet, bis sie die Haustür mit einem Knall zufallen hört, ehe sie sich wieder entspannt. Sie stellt sich Hester vor, die mit dem Rücken an der Tür lehnt und keuchend die Augen zukneift, und sie grinst. Dann zieht sie die Hand mit der Zigarette hinter ihrem Rücken hervor und nimmt einen kräftigen Zug. Der Rauch brennt in ihrer Lunge, und sie hustet, hält aber durch. Der Arzt, zu dem der Gentleman sie nach ihrer Entlassung brachte, hat sie dazu ermuntert und ihr erklärt, der heiße Rauch würde helfen, ihre Lunge zu trocknen. Ihre erste Zigarette seit Wochen. Sie ist nach draußen gekommen, um beim Rauchen Ruhe vor Mrs. Bell zu
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