Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Haus der vergessenen Träume: Roman (German Edition)

Das Haus der vergessenen Träume: Roman (German Edition)

Titel: Das Haus der vergessenen Träume: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Webb
Vom Netzwerk:
einem langen Tisch versammelte. Zu Anfang hatte Tess sich ein Kellerzimmer mit der Scheuermagd Ellen geteilt. Doch eines Nachts wurde der unterirdisch gelegene Raum überflutet, und es dauerte Wochen, bis er wieder trocken war. Schimmel überzog die Wände wie ein Pelz, und die Feuchtigkeit machte die kalte Luft unerträglich. Also bekam Ellen eine Pritsche im Zimmer des Ersten Küchenmädchens, und Tess zog zu Cat auf den Dachboden.
    Tess war erst sechzehn Jahre alt, fast noch ein Kind. Cat brachte ihr Grundkenntnisse im Lesen bei, erzählte ihr von fernen Ländern und las ihr Byron, Milton und Keats vor. Tess’ Augen leuchteten auf bei jeder Wendung in einer Geschichte, bei jeder schrecklichen oder wundersamen Begebenheit – als der Seemann den Albatros tötete, als Isabella den Kopf ihres Liebsten im Basilikumtopf vergrub.
    Beim ersten Mal war es Tess’ Idee gewesen, sich aus dem Haus zu schleichen. Bis dahin war Cat gar nicht auf den Gedanken gekommen. Sie war zu Gehorsam und Dienstbeflissenheit erzogen worden – war dazu erzogen worden, den Gentleman gleichermaßen zu lieben und zu fürchten. Doch Tess las das Flugblatt, das in den Dienstbotentrakt gelangt war, und zeigte es Cat. In einer stillen Ecke des Flurs, im Eingang zur Spülküche, wo sie weder von der Silberkammer des Butlers noch vom Arbeitszimmer der Haushälterin aus gesehen werden konnten, wedelte Tess ihr damit vor der Nase herum. »Lass uns da hingehen, Cat! Trau dich! Ach bitte, gehen wir, ja?« Am Sonntagnachmittag, ihrer einzigen freien Zeit, zogen sie ihre besten Kleider an und gingen hin. Und dieser Tag entzündete ein Feuer in Cat. Dass es ein Leben außerhalb des Hauses gab! Dass es einen Saal voller Menschen gab, die sich alle aus freiem Willen versammelt hatten, und dass sie selbst dazugehörte. Tess’ Wangen waren rosig vor Aufregung, und Cat war wie vor den Kopf geschlagen. Es schien ihr, als hätte das Leben für sie einen ganz neuen Anfang genommen, und die Welt werde sich nie wieder so träge und eintönig drehen wie zuvor.
    Der Versammlungssaal in ihrem Viertel war in Purpur, Weiß und Grün geschmückt, von den Schärpen, Flaggen und Wimpeln, die an jedem Geländer und jeder Balustrade hingen, bis hin zu den großen Blumensträußen, die überall in Vasen verteilt waren und ihren Duft verbreiteten. Riesige Banner wehten sanft über ihren Köpfen. Eines verkündete: Wer frei sein will, muss erkennen, dass niemand ihm die Freiheit gibt als das eigene Schwert! Ein anderes zeigte ein elegantes Bild von Emmeline Pankhurst, lobte ihren aufrechten Mut und nannte sie eine Vorkämpferin der Frauen . Die Atmosphäre vibrierte vor Aufregung, und Cat und Tess blieben ganz hinten im Saal stehen, überwältigt von der Eleganz der vornehmen Damen, die weiter vorn saßen und sich gut zu kennen schienen. Noch nie waren die Mädchen mit Frauen der Ober- und Mittelschicht im selben Raum gewesen, ohne diese zu bedienen. Für Tess war das schon genug. Ihr reichte es, als Person zu zählen, eine kleine Weile überhaupt als jemand zu zählen. Doch für Cat waren es die Worte, die Argumente der Rednerinnen an jenem Abend, die sie zutiefst ergriffen und zum ersten Mal in ihrem Leben wachzurütteln schienen.
    »Ein Mann mag betrunken sein oder schwachsinnig oder ein verurteilter Verbrecher, er mag ein Invalide sein, untauglich für den Kriegsdienst oder gar Weiße als Sklaven halten, und dennoch darf er wählen! Eine Frau mag Bürgermeisterin sein, Krankenschwester oder Mutter, sie mag eine medizinische Ausbildung haben und Ärztin oder Lehrerin sein, sie mag sich ihren Lebensunterhalt verdienen oder sich und ihre Familie durch ihre Arbeit in einer Fabrik ernähren, und dennoch darf sie nicht wählen! Wenn bei einem leichten Mädchen eine Geschlechtskrankheit festgestellt wird, kann es verhaftet und gegen seinen Willen viele Monate lang festgehalten werden, bis die Infektion erfolgreich behandelt wurde, und doch gibt es keine Strafe für die Männer, die es aufgesucht und angesteckt haben! Ein Mann kann seine Ehefrau schlagen und all seine Triebe an ihr befriedigen, und sie hat keine Möglichkeit, sich ihm zu verweigern. Ein Mann darf vor der Ehe Unzucht treiben und Erfahrung mit mehreren Partnerinnen machen, und dennoch kann er später eine achtbare Ehe schließen – doch die Frauen, mit denen er verkehrte, werden aus der Gesellschaft verstoßen!«
    An dieser Stelle kicherte Tess und lief rot an. Cat hieß sie still sein und packte ihre Hände, um

Weitere Kostenlose Bücher