Das Haus der vergessenen Träume: Roman (German Edition)
haben und um sich den Sturm anzuschauen. Noch nie hat sie unter einem Baum gestanden, während der Wind ihn so heftig hin und her peitscht. Noch nie hat sie dieses ungeheure Brausen in den Blättern gehört – ein Fauchen und Tosen wie von Wellen, die sich donnernd am Ufer brechen. Sie schließt die Augen und lauscht, lässt sich von dem Geräusch umwirbeln, bis sie das Gefühl hat, nur ein weiteres Blatt an dem Baum zu sein, ein weiteres hilfloses, unbedeu tendes Ding, das im nächsten Augenblick davonfliegen könn te. Als direkt über ihrem Kopf ein Donnerschlag kracht, lächelt Cat im Dunkeln.
»Wo, zum Teufel, hast du gesteckt?«, herrscht Mrs. Bell sie an, als sie in die Küche zurückkehrt. »Die Herrin schreit nach der Wärmflasche und Kakao und ihrem wollenen Bettjäckchen aus der Wintertruhe, und du bist nirgends zu finden!«
»Das ist ein Gewitter, kein Schneesturm. Sie braucht wohl kaum ein wollenes Bettjäckchen«, entgegnet Cat, holt etwas Milch aus der Kühlkammer und gießt sie in einen Kupfertopf. Die weiße Flüssigkeit sieht vor dem glänzenden Metall wunderschön aus, und Cat lässt sie im Topf kreisen, während sie ihn auf den Herd stellt.
»Ob sie das Ding braucht oder nicht, spielt gar keine Rolle. Sie will es haben, und für wen hältst du dich, dass du ihr widersprichst, Mädchen?«, grollt Mrs. Bell. »Geh und such es – es muss in der Truhe ganz hinten bei der Treppe sein. Und nimm ja alle Mottenkugeln heraus, ehe du sie ihr gibst. Ach, geh da weg, ich mache das – ehe du noch die Milch anbrennen lässt!«
»Ja, Mrs. Bell«, sagt Cat seufzend.
»Komm mir bloß nicht mit ›Ja, Mrs. Bell‹ …«, beginnt Mrs. Bell, findet aber nicht die passenden Worte für ihre Missbilligung. Sie verstummt, rührt die Milch energisch mit einem Quirl und schüttelt dabei den Kopf. Das eifrige Quirlen schüttelt auch andere Dinge – die gesamte Partie zwischen ihrem Busen und ihren Oberschenkeln wackelt. »Nimm eine Lampe mit – er möchte nicht, dass oben Licht eingeschaltet wird, wenn sie schon zu Bett gegangen ist«, ruft sie Cat nach.
»Ich brauche keine Lampe«, entgegnet Cat, schon auf dem Weg zur Treppe. Nach ein paar Schritten haben ihre Augen sich auf die Dunkelheit eingestellt.
Hester sitzt zitternd im Bett, mit kribbelnden Zehen und Fingern, in die nun das Blut zurückkehrt. Ihr Kopf schmerzt von den Schrecken dieses Abends. Trotz der Lampen, die den Raum in weiches, gelbes Licht tauchen, meint sie immer noch Schatten zu sehen, lauernde Gestalten in den Ecken des Zimmers, die verschwinden, wenn sie den Blick dorthin wendet. Etwas Böses hat eines unserer Häuser betreten … Hester wünscht, Albert möge nach Hause kommen und mit seiner frommen Gelassenheit und beruhigenden Ausstrahlung ihre Ängste bannen. Allmählich entspannt sie sich ein wenig und hat eben zu einer Predigtsammlung gegriffen, als sie ein leises Poltern vor dem Schlafzimmer erschrocken innehalten lässt. Sie wartet mit gespitzten Ohren darauf, das Geräusch noch einmal zu hören. Und tatsächlich, da ist es wieder – ein Scharren, ein leichtes, dumpfes Pochen. Hester tadelt sich für ihre Angst und dafür, dass sie glaubt, irgendetwas Gespenstisches könnte ihr von der Séance bis nach Hause gefolgt sein.
»Wahrscheinlich nur eine der Katzen, du albernes Ding«, sagt sie laut zu sich selbst, und der gewohnte Klang ihrer eigenen Stimme verleiht ihr Mut. Um sich zu beweisen, dass sie ganz rational und nicht furchtsam ist, steht sie auf und geht zur Tür. Doch mit der Hand auf dem Knauf hält sie inne und schluckt. Ihre Kehle ist vollkommen trocken. So leise wie möglich öffnet sie die Tür. Der Flur liegt in völliger Dunkelheit, und ein spürbarer Luftzug streicht von Osten nach Westen hindurch. Hester blickt demonstrativ zu beiden Seiten den Flur entlang, obgleich sie nichts sehen kann außer tintenschwarzer Finsternis, aus der alles Mögliche hervorspringen könnte. Sie bekommt eine Gänsehaut und wendet sich ab, um wieder hineinzugehen. In diesem Moment erscheint eine Gestalt unmittelbar neben ihr. Hester kreischt, doch dann erkennt sie glitzernde dunkle Augen und dunkles Haar im Licht, das hinter ihr aus dem Schlafzimmer dringt. »Cat! Du meine Güte, du hättest mich fast zu Tode erschreckt!« Sie lacht nervös.
»Verzeihung, Madam, das wollte ich nicht. Ich bringe Ihnen Ihr Bettjäckchen«, sagt Cat und hält ihr eine Strickjacke hin, die durchdringend nach Kampfer stinkt.
»Danke, Cat«, sagt Hester, deren
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