Das Haus der vergessenen Träume: Roman (German Edition)
wir bei ihm gefunden haben? Ich sage es dir – und dann kannst du entscheiden, ob du bleiben willst oder nicht. Leah! Er hatte Briefe bei sich – sie haben fast hundert Jahre im Erdboden überstanden! Kannst du dir das vorstellen? Und es sind auch keine gewöhnlichen Briefe«, rief Ryan ihr nach. Leah blieb stehen. Da war es plötzlich, dieses winzige Funkeln, das Aufschimmern von Neugier, das sie stets empfand, ehe sie sich daranmachte, eine Story zu verfolgen. Langsam drehte sie sich wieder zu Ryan um.
1911
Cat ist so gebannt von der hinter den Fenstern vorüberfliegenden Welt, dass die Reise schnell vergeht – viel zu schnell. Sie hat die Stirn an die Scheibe gelehnt und starrt in den bleichen Himmel, unter dem die verschwommenen Wiesen dahinströmen wie ein Fluss. Sie stellt sich vor, dass sie schneller rennt, als jemals ein Mensch gerannt ist, oder dass sie vielleicht sogar fliegt wie ein Vogel. Sie weiß, dass der Zug bis ganz in den Westen fährt, weiter nach Westen, als sie je gewesen ist. Er wird ohne sie nach Devon weiterrollen, und nach Cornwall, und zum Meer. Sie sehnt sich danach, das Meer wiederzusehen. Beim Gedanken daran wird die Sehnsucht so stark, dass es wehtut. Cat hat das Meer nur einmal gesehen, als sie acht Jahre alt war und ihre Mutter noch lebte. Der ganze Haushalt war für einen Tag nach Whitestable gereist. Es war ein Sommertag wie eine luftige Bluse, mit zarten Wolken und einer verspielten Brise, die den Eseln die Schwänze nach hinten hochwehte und das Segeltuch der leeren Liegestühle aufblähte. Der Gentleman hatte ihr eine Auster in der Schale gebracht und eine Waffel mit Erdbeereis, und sie hatte sich danach übergeben, auf ihr bestes Kleid. Zähe kleine Klumpen Austernfleisch in klebriger rosa Soße. Dennoch war es der schönste Tag ihres Lebens gewesen. Die Austernschale hatte sie jahrelang in einer Pappschachtel zusammen mit anderen kleinen Schätzen aufbewahrt.
Als der Zug langsamer wird, verrinnt die Illusion des Fliegens, und Cat spürt, wie sie wieder zu einem menschlichen Wesen wird, mit den Füßen fest auf der Erde. Die Versuchung, nicht auszusteigen, ist groß. Sie könnte in dem klammen Sitz versinken und einfach weiterfahren – weiterfahren, bis sie durch das staubige Fenster das Meer sehen könnte. Doch der Zug kommt quietschend zum Stehen, und sie krümmt die Finger und presst die Fäuste zusammen, bis sich ihre Fingernägel in die Handflächen bohren. Sie hatte gehofft, aus dieser Geste Kraft zu schöpfen, aber es gelingt ihr nicht ganz. Der Bahnhof von Thatcham ist klein und schlicht. Außer ihr steigt nur noch eine Person aus, ein Mann mit finsterer Miene über seinem Schnurrbart. Geschäftiger geht es am Güterwaggon zu, wo mehrere riesige Holzkisten auf einen Karren geladen werden. Sommerflieder und hohe, junge Brennnesseln neigen sich über den Holzzaun und flüstern leise. Cat holt tief Luft. Überall auf der Welt wäre sie jetzt lieber als hier, doch zugleich fühlt sie sich wie betäubt, ohne Gefühle, als hätten Schmerz und Brutalität der vergangenen Monate sie aus ihr herausgeschüttelt. Am Ende des Bahnsteigs steht eine ungeheuer dicke Frau. Cat hält inne, blickt sich suchend nach einer anderen Person um und geht dann langsam auf sie zu.
Die Frau ist fast so breit wie hoch. Ihre prallen Wangen quetschen die Augen zu Schlitzen zusammen. Ihr mächtiges Doppelkinn begräbt den Hals unter sich, sodass der Kiefer in einer Linie in den Busen überzugehen scheint. Von ihrer Mitte hängt eine Schürze aus schlaffem Fett herab, die unter ihrem leichten Baumwollkleid ein wenig hin und her schwingt und dabei an die Oberschenkel stößt. Cat fühlt den scharfen Blick aus grauen Augen, die sie von Kopf bis Fuß mustern. Sie erwidert ihn unerschrocken, ohne dabei mit der Wimper zu zucken.
»Sind Sie Sophie Bell?«, fragt Cat die Frau. Sophie Bell . Ein so hübscher, wohlklingender Name. Cat hatte sich eine große, sanfte Frau mit kornblumenblauen Augen und bernsteinfarbenen Sommersprossen vorgestellt.
»Für dich heißt das Mrs. Bell. Und du bist Cat Morley, nehme ich an?«, erwidert die Frau barsch.
»Die bin ich.«
»Na, dann steh Gott mir bei, denn du bist sicher zu nichts zu gebrauchen«, erklärt Sophie Bell. »Seit einem halben Jahr bitte ich um Hilfe für den Haushalt, und jetzt bekomme ich so ein mageres Ding, das aussieht, als würde es spätestens am dritten Tag tot umfallen«, brummelt sie, wendet sich von Cat ab und marschiert mit
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