Das Haus der vergessenen Träume: Roman (German Edition)
wenn Mrs. Heddingly oder sonst ein Vorgesetzter ihre Arbeit inspizierte.
»Weil die Reichen immer etwas dagegen haben werden, wenn die Armen irgendetwas anderes tun, als sie zu bedienen«, erklärte Cat ihr kühn. »Kopf hoch. Noch eine halbe Stunde, dann gebe ich dir einen Becher heiße Schokolade aus«, sagte sie und drückte Tess’ Schultern. Bald wurde deutlich, dass diese kleinen Belohnungen alles waren, was Tess noch in der WSPU hielt, und Cat wusste, dass sie ihre Freundin nicht drängen sollte mitzumachen. Aber wenn sie ehrlich war, wünschte sie sich, das Abenteuer mit jemandem zu teilen. Tess hatte sie ursprünglich zu der Bewegung gebracht, und es wäre Cat irgendwie falsch erschienen, sich sonntags ohne sie hinauszuschleichen und den feinen, gebil deten Damen zuzuhören, die über Rechte und Gesetze, Wah len und Gerechtigkeit sprachen. Sie wäre sich nicht halb so mutig und verwegen vorgekommen ohne Tess, die immer ein wenig unsicherer war, immer ermuntert werden musste. Cat hält im Schreiben inne und schließt die Augen vor innerer Qual. Sie hat ihre Freundin benutzt. Sie hat Tess dazu benutzt, sich selbst auf eine Weise sehen zu können, die ihr gefiel. Zum ersten Mal in ihrem Leben konnte sie ein klein wenig Macht über einen anderen Menschen ausüben.
Zwei Monate nachdem sie ihren Shilling bezahlt und der Vereinigung beigetreten waren, ließ Cat die Sekretärin ihres Ortsverbandes wissen, dass sie bereit wären, aktivere Rollen zu übernehmen. Sie sagte es ganz leise, als könnte sie jemand belauschen, doch die Dame im WSPU -Büro blickte scharf zu ihr auf.
»Fenster einwerfen? Politische Debatten stören?«, fragte sie unvermittelt. Cat nickte erschrocken, und ihr pochte das Herz laut in den Ohren. Die ältere Frau schaute mit durch dringenden, aber freundlichen dunklen Augen über den Rand ihrer halbmondförmigen Brillengläser zu Cat empor. »Ausgezeichnet, Genossin. Gutes Mädchen. Ich werde an dich denken.« Cat lächelte knapp, nickte und ging hinaus in den Hauptraum des Büros, in dem haufenweise Flugblätter lagen. Die Wände waren mit Bannern und Parolen und gerahmten Fotografien von Märtyrerinnen der Wahlrechtsbewegung bedeckt. Da war ein prächtiges Bild von Jeanne d’Arc, der Schutzpatronin der WSPU . Mit grimmiger Miene ragte sie hinter einer Reihe von Freiwilligen auf, die Faltblätter in Briefumschläge steckten. Der Raum roch stickig nach Papier und Schreibmaschinenfarbe, und die warme Luft vibrierte von all den geschäftigen Stimmen, Schritten und dem Lärm der Druckmaschine. Dies war das Zentrum eines Kriegszuges, wo Schlachten geplant und Verluste gezählt wurden. Cat fand es herrlich. Eine Geschäftigkeit, die nichts mit Putzen zu tun hatte oder damit, jene zu verhätscheln und zu bedienen, die zu faul waren, die Arbeit selbst zu tun. Tess war nicht dabei, als Cat sie beide für militante Aktionen bereit meldete. Tess wartete draußen, sie sah dem Leierkastenmann mit seinem Äffchen zu, das einen winzigen Zylinder und eine rote Weste trug, und lachte herzlich über dessen Späße.
Robin Durrant kommt rechtzeitig aus Reading zurück, um schnurstracks zum Esstisch durchzugehen, mit glühenden Wangen und zerzaustem Haar.
»Ich bitte um Verzeihung. Sie haben doch hoffentlich nicht auf mich gewartet?«, keucht er und wirft nacheinander Albert, Hester und Amelia einen kurzen Blick zu. Und dieses eine Mal huscht sein Blick zu flink, wirkt sein Lächeln ein wenig bemüht. Hester bemerkt, dass seine ganze Haltung inneren Aufruhr verrät.
»Keineswegs, Robin. Ganz und gar nicht. Ich hoffe, du hast in der Stadt gefunden, was du brauchtest?«, erkundigt sich Albert. Der Pfarrer ist so adrett und gepflegt wie stets, das weiche Haar zurückgekämmt, der Bart säuberlich ge trimmt. Hester wirft ihm einen Seitenblick zu, weil sie allerdings auf Robin gewartet haben und es schon nach neun Uhr ist. Doch Alberts Gesichtsausdruck ist offen und unbekümmert.
»Ja, und ich habe außerdem die Gelegenheit genutzt, meine Eltern zu besuchen, da ich sie seit einigen Wochen nicht mehr gesehen hatte. Mein jüngerer Bruder ist gerade zu Besuch, sodass ich alle drei auf einmal antreffen konnte«, sagt er und sitzt schon beinahe, ehe die Damen sich niedergelassen haben. Mit einem Schnippen aus dem Handgelenk lässt er seine Serviette in den Schoß fallen und greift nach seinem Glas, ehe er bemerkt, dass Cat ihm noch nicht eingeschenkt hat. Albert entgeht die Geste nicht – er steht selbst auf, um den
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