Das Haus der vergessenen Träume: Roman (German Edition)
war nicht immer Theosoph, hat sie mir erzählt.« Sophie Bells Augen glitzern verschlagen, wie immer, wenn sie tratscht.
»Nicht?«, fragt Cat. Auf einmal will sie mehr über den Mann erfahren. Kenne deinen Feind – die Worte schießen ihr plötzlich durch den Kopf. Meinen Feind?
»O nein. Er war lange weg und hat studiert, und als er wieder zurück war, haben seine Eltern jedes Mal, wenn sie zum Essen kamen, eine andere Geschichte erzählt. Erst war er Dichter, dann hat er für irgendwelche Zeitungen ge schrieben. Dann wollte er ein Kirchenmann werden – ein methodistischer Pastor, meine Güte. Er war ein paar Monate lang in Griechenland, aber anscheinend wusste niemand so genau, was er da gemacht hat. Als er zurückkam, hat er fürs Parlament kandidiert, einfach so! Für die Liberal Party, aber er ist nicht gewählt worden. Und ehe man sich’s versieht, ist er Theophist oder wie immer er das nennt, und behauptet, das wäre die ganze Zeit seine wahre Berufung gewesen.« Mrs. Bell macht eine wegwerfende Handbewegung, bei der ihre fleischigen Arme wabbeln.
» Theosoph . Tja. Klingt ganz so, als wüsste er nicht, wer er ist und woran er glauben soll, nicht wahr?« Cat grinst boshaft. »Interessant.«
Mrs. Bell blickt mit argwöhnisch zusammengekniffenen Augen zu ihr auf. »Jetzt erzähl das bloß nicht herum – und ihm schon gar nicht. Ich habe gehört, wie du dich mit ihm unterhalten hast, draußen auf dem Hof. Dass du mir ja nicht leichtsinnig wirst, Cat.«
»Nein, Sophie Bell. Ganz gewiss nicht.«
Als Cat am Nachmittag eine Stunde Pause hat, bleibt sie in ihrem Zimmer und hält den Atem an, wann immer sie glaubt, jemanden im Flur zu hören. Aber es ist nur das Haus, das in der Hitze stöhnt, weil sich seine Balken und Bretter ausdehnen. Der Himmel vor ihrem offenen Fenster ist lodernd blau. Sie kann die Pfarrersfrau und ihre Schwester hören, deren Stimmen endlos wie Spiralen kreisen. Die Kinder necken sich atemlos, und ihre Stimmen kommen näher und entfernen sich wieder wie eine kleine, rastlose Schar Vögel. Cat kann den Gedanken nicht verdrängen, dass Robin Durrant nachts vor ihrem Zimmer war, dass er von ihrem schlaflosen Leben weiß. Er ist wie ein ständiges Jucken oder ein summendes Insekt, das sie einfach nicht loswird. Und sie weiß, dass er dieses Wissen irgendwie gegen sie einsetzen will. Falls er vorhaben sollte, seine Lust an ihr zu befriedigen, denkt sie grimmig, steht ihm eine Enttäuschung bevor. Sie wird ihm die Augen auskratzen, ehe sie zulässt, dass er sie anfasst. Aber sie wird ihn treffen, wie er es verlangt hat. Allein schon deshalb, weil sich unter all ihrer Wut auch ein Funken Neugier regt. Über solchen Gedanken verrinnt kost bare Zeit. Cat schüttelt den Kopf, packt den Bleistift fester und schreibt. Sie verfasst einen weiteren Brief an Tess, diesmal an Frosham House adressiert. Schuldgefühle wühlen in ihrem Magen, schwappen wie Säure in ihr und stören ihre Konzentration. Ich ertrage den Gedanken nicht, dass Du jetzt dort bist. Ich werde mir etwas überlegen, um Dich herauszuholen, das schwöre ich , schreibt sie. Aber was sollte ihr einfallen? Was kann sie tun? Sie beißt sich auf die Unterlippe und schreibt noch einmal Ich schwöre es Dir , wie um sich selbst zu verpflichten, wirklich etwas zu unternehmen. Bitte sei stark, Tessy. Halte durch, bis ich eine Möglichkeit finde.
Das Anliegen der Suffragetten wurde Tess allmählich langweilig, während Cat sich der Sache immer mehr verschrieb. Tess hatte sich nur dafür interessiert, weil sie dadurch aus dem Haus kamen, in dem sie einen Großteil ihres Lebens verbrachten. Ihr ging es um kleine Fluchten, nie um die politischen Ziele an sich. Sie flüsterte mit unterdrücktem Kichern, dass sie gar nicht wüsste, wen sie wählen sollte, selbst wenn sie das Wahlrecht bekäme. Die Kampagne war eine aufregende Abwechslung von der Arbeit, die jedoch nicht mehr so aufregend war, nachdem sie mehrere Wochen lang Flugblätter verteilt und Bänder verkauft, Ausgaben der Votes for Women feilgehalten, Parolen gerufen und finstere Blicke von achtbaren Männern und Frauen kassiert hatten.
»Ich verstehe nicht, was die so schlimm an uns finden«, sagte Tess eines Tages, verletzt von der herablassenden Kälte reicher Damen. »Schließlich werden sie auch was davon haben.« Sie schob die Unterlippe vor wie ein Kind, strich sich das Haar hinter die Ohren und zupfte verlegen ihre Ärmelsäume zurecht – sie zappelte genauso, wie sie es tat,
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