Das Haus der verlorenen Düfte: Roman (German Edition)
vermeintlichen Neutralität gewählt. Niemand geriet in den Verdacht der Subversion, wenn er Berge, Flüsse oder Wolken malte. Und die Lyrik, die er in seinen Werken verarbeitete, stammte aus lange versunkenen Zeiten.
Künstler wurden nach wie vor dazu angehalten, den Staat zu verherrlichen, doch seit einem Jahrzehnt begannen sich auch kritische Geister zu etablieren und hatten sogar Erfolg. Die Extremsten von ihnen, die erotische Kunst produzierten oder sichoffen gegen Regierungsentscheidungen aussprachen, agierten im Untergrund, doch viele moderatere Künstler wurden inzwischen als Teil des kulturellen Establishments akzeptiert oder lehrten sogar an den Universitäten. Trotz dieser Veränderungen konnte Xie es sich nicht leisten, Misstrauen zu erregen, und verzichtete auf politische Botschaften.
So schien es jedenfalls.
»Und ich habe von Professor Wu erfahren, dass du einer der vier Studenten dieses Instituts bist, deren Werke ausgewählt wurden, in Europa auf Ausstellungstournee zu gehen. Das ist eine große Ehre. Wir sind alle sehr stolz auf dich.«
Xie bedankte sich noch einmal.
Chung seufzte. »Danke sehr? Ist das alles?«
Xie wusste, dass sein Schweigen seinen ehemaligen Lehrer enttäuschte, doch solange er nichts sagte, konnte er auch nichts Falsches sagen. Seit seiner Ankunft im Waisenhaus hatte Xie sehr wenig gesprochen.
Als Xie den Rauchgeruch bemerkt hatte, hatte er sich zuerst gefragt, warum die Mönche die Opferfeuer schon vor Sonnenaufgang entzündeten. Doch so gern er es auch herausgefunden hätte – er rührte sich nicht vom Fleck. Der Sechsjährige, der damals noch Dorjee hieß, war vor einigen Monaten in das Kloster Tsechen Damchos Ling gekommen, um den Weg des
dzogchen
zu erlernen. Der Kern dieser uralten Lehre war Selbstdisziplin. Dorjee meditierte. Dabei durfte er sich durch nichts stören lassen.
Doch die Schreie konnte er nicht ausblenden. Das Geräusch rennender Füße.
»Dorjee, komm mit.« Plötzlich erschien Ribur Rinpoche in der Tür. »Schnell. Das Kloster brennt.«
Der Flur stand voller Rauch, es stank nach brennendem Gummi. So roch ihr Brennstoff. Der gesamte Vorrat an getrocknetenYakfladen wurde von den Flammen verzehrt. Wie sollten sie über den Winter kommen?
Draußen setzte der Rinpoche seinen Schüler unter einen schneebedeckten Baum und schärfte ihm ein, sich von den brennenden Gebäuden fernzuhalten. »Du könntest verletzt werden. Es ist sehr gefährlich. Das verstehst du doch?«
Dorjee nickte.
»Wenn du Angst hast, sprich dein Mantra und übe dich in Achtsamkeit.«
Das waren die letzten Worte des Rinpoche, bevor er zurückrannte und mit den anderen Mönchen versuchte, das Heiligtum des Klosters zu retten, die jahrhundertealten Thangka-Gemälde, die Reliquien und seltenen Schriftrollen.
Om mani padme hum.
Dorjee wiederholte sein Mantra wieder und wieder, doch es half nichts. Die Flammen hatten sich durch das Tempeldach gefressen und reckten sich zum heiligen Gipfel des Kailash empor. Was geschah im Inneren des Klosters? Was war mit Ribur Rinpoche? Warum kam er nicht zurück?
Plötzlich verschloss ihm eine raue Hand den Mund. Jemand packte ihn bei der Hüfte. Dorjee versuchte zu schreien, doch er konnte den Mund nicht öffnen. Er versuchte sich freizustrampeln, doch der Mann war stärker als er.
»Wir retten dich vor dem Feuer, Dummkopf. Hör auf, dich zu wehren.«
Chung und die anderen glaubten, das Feuer, der Verlust seiner früheren Lehrer und seine eigene »Rettung«, wie sie die Entführung stets nannten, hätten den Jungen traumatisiert und ihn fast vollständig verstummen lassen.
Xie, wie sie ihn nannten, seit sie ihn in dem Waisenhaus am Rande Pekings versteckt hielten, wusste es besser. Doch es war ihm nur recht, sie in dem Glauben zu belassen.
Chung hatte sich lange bemüht, den Jungen zum Sprechen zu ermuntern. Wenn Xie nicht redete, erklärte er, würde er nie eine Ehefrau finden und eine Familie gründen können. Doch diese Drohung kümmerte Xie nicht. Der Rinpoche in Tibet hatte ihm längst erklärt, dass er nicht dazu bestimmt war, ein normales Leben zu führen.
Chungs Stimme holte ihn in die Gegenwart zurück. »Professor Wu hat für dich die Erlaubnis beantragt, mit den anderen Künstlern Europa zu bereisen. Deshalb bin ich hier. Um die Angelegenheit mit dir persönlich zu besprechen. Möchtest du dort hin?«
Xie blinzelte nicht, verzog keinen einzigen Gesichtsmuskel und sah nicht eine Sekunde von seiner Arbeit auf. Er tauchte
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