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Das Haus der verlorenen Düfte: Roman (German Edition)

Das Haus der verlorenen Düfte: Roman (German Edition)

Titel: Das Haus der verlorenen Düfte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melisse J. Rose
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den Pinsel in die Tusche und zog ihn in einer ruhigen Geste über das Papier, die ein halbes Schriftzeichen hinterließ. Es erinnerte an einen Vogel, der hoch über einem Berg dahinflog. Xie wusste, dass Chung auf seine Antwort wartete. Er durfte nicht zu lange zögern. Wenn Chung ungeduldig wurde, verlor er leicht die Fassung, und Xie wollte nicht seinen Zorn auf sich ziehen.
    »Wenn die Regierung wünscht, dass ich fahre, tue ich es gern.«
    Chung lächelte. Ein Zehn-Wort-Satz von Xie war wie ein episches Gedicht aus dem Mund jedes anderen. Zur Feier des Tages griff der Beamte noch einmal in die rote Tüte und fischte sein drittes Bonbon heraus. Dann hielt er die Tüte wieder Professor Wu und Xie hin, der sich leise bedankte und das Bonbon neben das andere auf den Schemel legte.
    Im Waisenhaus hatte es zwei Sorten Kinder gegeben. Die einen griffen hastig nach Chungs Bonbons und aßen sie auf der Stelle auf. Begierig, fast verzweifelt, verschlangen sie die Süßigkeit, statt sie zu genießen, und versuchten der Belohnung, der kleinen Abweichung von der Routine, dem besonderen Augenblickein wenig Trost abzugewinnen. Die anderen Kinder steckten ihr Bonbon behutsam, als sei es zerbrechlich, in ihre Kitteltaschen und bewahrten es für später auf.
    Die besonders Schlauen horteten ihre Bonbons, um sich Gefälligkeiten zu erkaufen. Andere warteten nur einen ungestörten Moment ab und setzten die Süßigkeit wie eine Erinnerungshilfe ein, die sie in die Zeit zurückversetzte, als sie noch die Geborgenheit einer Familie kannten.
    Xie gehörte zu keiner dieser Kategorien. Wenn eins der anderen Kinder besonders traurig war, schenkte er ihm ein Bonbon aus seinem Vorrat. Es tat ihm gut zu wissen, dass der andere zumindest für eine Weile ein wenig glücklicher war.
    Im Austausch bat er nur um ihr Versprechen, der Hausmutter nichts von seinen guten Taten zu erzählten. Er befürchtete, Chung könnte davon erfahren und ahnen, dass die Gehirnwäsche nichts ausrichtete.
     
    Wu war der Ansicht, Kalligraphie könne als moderne Kunstform nur erfolgreich sein, wenn ihre jungen Verfechter sich neuen Techniken und Interpretationen öffneten. Unter seiner Anleitung befassten sich die Studenten nicht nur mit Lyrik, Musik und dem Umgang mit Pinsel und Tusche, sondern auch mit westlichen Materialien, Farben und Konzepten. Er ermutigte sie, kreativ zu sein, mit den Formen und Strukturen der Schriftzeichen herumzuexperimentieren. Er ermutigte sie, Risiken einzugehen und Regeln zu brechen.
    Der größte Regelbruch, den er selbst beging, war sein alljährliches Gespräch mit Xie.
    Bevor Professor Wu neue Studenten in seinen Kurs aufnahm, besuchte er mit ihnen stets einen Wasserfall an einer uralten heiligen Stätte und forderte sie auf, in einer spontanen Skizze die Stimmung dieses Ortes einzufangen.
    Wu beobachtete, wie der zukünftige Schüler mit der Natur,mit Pinsel und Tusche umging, und entschied dann allein auf der Grundlage dieses Tests, ob er den angehenden Künstler aufnehmen wollte.
    Als Xie seinen Wasserfalltest durchlief, erkannte Wu seine Fähigkeiten sofort und bot Xie an, bei ihm zu studieren. Xie neigte den Kopf und beteuerte, es sei ihm eine Ehre.
    Dann legte Wu ihm die Hand auf die Schulter. Es war das erste Mal seit dem Abschied von seinem Rinpoche, dass ihn jemand so berührte.
    »Es liegt großes Leid in deinem Blick. Was ist mit dir geschehen, mein Sohn?«
    In stockenden, geflüsterten Sätzen, gleich Wasser, das sich seinen Weg durch tiefen Fels bahnt, erzählte Xie, der seine Kindheitserlebnisse keiner Menschenseele gegenüber je erwähnt hatte und nie ein Wort über seine Vergangenheit und Identität verlor, dem Professor, wer er wirklich war.
    Später fragte er sich, woher er die Zuversicht genommen hatte, dem alten Mann zu vertrauen. Hatte er in ihm einen Seelenverwandten erkannt? Hatte er verzweifelt auf Unterstützung gehofft? Oder hatte es an der halb vergessenen, tröstlichen Berührung eines Menschen gelegen, der sich die Mühe machte, die Hand nach ihm auszustrecken?
    Seitdem wanderten Wu und Xie Jahr für Jahr zu dem Wasserfall. Dort, wo das Tosen des Wassers ihre Worte abschirmte, besprachen sie Xies Möglichkeiten. Langsam, behutsam schmiedeten sie einen Plan.
     
    »Sie erwähnten, dass man vor meiner Rückkehr ins Hotel noch ein Glas Wein trinken könnte. Gilt das Angebot noch?«, fragte Chung Professor Wu.
    Xie wandte sich seiner Arbeit zu. Sein »spezieller« Lehrer war wieder hungrig, wie immer.

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