Das Haus der verlorenen Düfte: Roman (German Edition)
sechs Jahre lang in Grasse in deinem Feenreich zwischen den Lavendelfeldern magische Düfte in Kristallglasflakons abgefüllt, als lebtest du in einem anderen Jahrhundert. Egal, wie schön deine neuen Parfüms sind, sie werden nie so viel Geld einbringen, wie wir der Bank schuldig sind. Zumindest Rouge und Noir müssen wir verkaufen. Dann haben wir immer noch ein gutes Dutzend Klassiker im Programm.«
»Nicht bevor du einmal an meinen Kreationen geschnuppert hast. Nicht bevor ich versucht habe, Abnehmer und Investoren zu finden.«
»Dafür haben wir keine Zeit.«
»Ich habe einen Plan. Bitte vertrau mir. Gib mir eine Woche. Irgendjemand wird sich dafür begeistern. Die Zeit ist reif für diese Düfte. Die Welt wartet darauf.«
»Du weigerst dich, praktisch zu denken.«
»Du hast kein Vertrauen.«
»Ich bin Realistin.«
Robbie wies auf den schweigenden Engel. »Das ist es, worum er wirklich trauert, Jac.«
Fünf
NANJING, CHINA
21:55 UHR
Das Atelier war leer, als Xie es betrat. Und er war dankbar für ein wenig Ruhe. Er breitete sein Werkzeug vor sich aus und arbeitete an einem Bild weiter, mit dem er am Nachmittag begonnen hatte. Damit brachte er seinen Geist zur Ruhe und konnte die quälenden, bohrenden Fragen loslassen. Xie ging ganz in dem Schwung seiner Bewegung auf, in jedem Tuschebogen, der langsam in das Papier einsank. Bald dachte er an nichts mehr und hörte nichts mehr von den Geräuschen im Flur oder vor dem offenen Fenster, nur noch das leise Wispern des Pinsels bei seinem Tanz über das Papier.
Die Kunst des Schönschreibens hatte, anders als viele andere alte Traditionen, den Sprung in die Moderne geschafft – hauptsächlich, weil Mao Zedong begriffen hatte, dass Kalligraphie in einem Land mit hunderten Dialekten trotz seiner elitären Geschichte ein durchaus effizientes Kommunikationsmittel sein konnte. Diese Anerkennung durch das kommunistische Regime nahm der Tradition ihren Status der hohen Kunst und versetzte sie in die Alltagssphäre hinein.
Manche Künstler schrieben ihren Werken rebellische Botschaften ein und sagten mit Pinsel und Tusche ihre Meinung. Xie nicht. Seine Bilder waren keine politischen Statements. Sie schrien ihre Botschaft nicht in die Welt hinaus. Aber sieflüsterten. Und außerhalb Chinas gab es Menschen, die diese Stimme hörten.
Ein Punkt, in dem Xie mit der Tradition brach, war sein Gebrauch von Siegeln. Üblicherweise enthielten diese geschnitzten Blöcke die Schriftzeichen für den Namen des Künstlers und wurden mit zinnoberroter Farbe bestrichen. Xie führte in jedem Siegel die Narration seiner Werke fort. Er hatte im Lauf der Jahre hunderte Blöcke geschnitzt, die verschiedenste illustrative Elemente enthielten: von naturgetreuen Blättern, Blüten, Wolken und Monden bis hin zu menschlichen Gestalten, Gesichtern und Händen, Lippen, Augen, Armen und Beinen.
Die Werke des jungen Kalligraphen waren ausdrucksstark, komplex und filigran. Und mit jedem einzelnen riskierte er sein Leben. Denn in jedes seiner Siegel war eine winzige Zickzacklinie eingearbeitet: ein Blitzstrahl. Seine zweite Signatur.
Es war eine Botschaft an jeden, der wusste, wonach er suchen musste. Dass er nicht getötet worden war. Dass er lebte.
Trotz aller Bemühungen störten mitten in seiner meditativen Ruhe die Bilder des brennenden Mönches seine Konzentration. Es geschah nicht oft, dass er so die Kontrolle verlor. Normalerweise fühlte er sich beim Malen vollkommen frei. Heute nicht. Heute war die Last der tragischen Ereignisse zu groß.
Da viele Künstler in demselben Atelier arbeiteten, ging immer irgendjemand ein und aus. Xie hob nicht einmal den Kopf, als die Tür sich öffnete und die Schritte zweier Besucher sich näherten. Noch nicht. Er spürte dem letzten Schwung einer kurvigen Linie nach und trat erst zurück, als er seinen Namen hörte. Angstvoll drehte er sich um. Er hatte die Stimme von Lui Chung erkannt. Zwar hatte er gewusst, dass es irgendwann im Lauf der Woche zu dieser Begegnung kommen musste, doch heute hatte er sie nicht erwartet.
»Bei einem wirklich exzellenten Essen hat mir Professor Wu«, Lui Chung nickte zu seinem Begleiter hinüber, »die erstaunlichsten Dinge von deinen jüngsten Arbeiten berichtet.« Er näherte sich, beugte sich über Xies Schulter und besah sich das unfertige Bild. »Und ich verstehe auch, warum.«
Chung war immer damit beschäftigt zu essen; ständig kaute und schluckte er und schmatzte beim Sprechen. Wie immer flößte
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