Das Haus der verlorenen Düfte: Roman (German Edition)
Hungrig, in Eile und ein wenig träge, immer auf der Suche nach dem bequemsten Weg.
»Natürlich. Wenn Sie erst noch kurz unterschreiben könnten?« Wu reichte Chung das Formular, das Xie die Erlaubnis erteilte, nach England, Frankreich und Italien zu reisen. Eine zehntägige Rundreise mit einem Dutzend anderer chinesischer Künstler.
Würde Chung das Dokument aufmerksam lesen?
Xie hatte Angst, hinzusehen, und konzentrierte sich ganz auf sein Bild, doch sein Geist kam nicht zur Ruhe. Würde sein ehemaliger Lehrer auf die Reisedaten achten? Würde er sie notieren, um sie in Peking mit den Reisedaten von Staatsoberhäuptern abzugleichen? Würde seine Reise an dem Dickicht der Bürokratie scheitern oder genehmigt werden?
Wieder tauchte Xie den Pinsel in nachtschwarze Tusche und berührte mit der Spitze das Papier. Er ließ sein Handgelenk und seine Fingerspitzen wandern, wie sie wollten, ließ sie über das Blatt dahinfliegen.
»Dann können wir jetzt wohl?«, sagte Chung und legte das Formular achtlos auf den Tisch.
Xie erlaubte sich einen raschen Blick.
Die Unterschrift war krakelig. Chungs Handschrift ließ jede Eleganz vermissen, genau wie der Mann selbst. Doch das Dokument war unterschrieben.
Sechs
NEW YORK CITY
18:00 UHR
Robbie näherte sich der im Queen-Anne-Stil erbauten Villa mit ihren Giebeln, verwitterten Wasserspeiern und verschlungenen schmiedeeisernen Brüstungen. Es freute ihn, dass die Stadtplaner von Manhattan, die sonst alles Alte abrissen, um etwas Neueres, Größeres, Höheres an seine Stelle zu setzen, dieses kleine Gebiet in der West Side offenbar übergangen hatten. Zwischen den reich verzierten Gebäuden aus dem neunzehnten Jahrhundert fühlte er sich ein wenig wie zu Hause, in Paris.
In der beginnenden Dämmerung wirkte der Sitz der Phoenix Foundation beinahe mystisch. Als hätte die Beschäftigung mit der Reinkarnation im Inneren des Hauses, wo man den Parallelen und Übereinstimmungen verschiedener Lebensläufe nachging und die damit verbundenen philosophischen, religiösen und wissenschaftlichen Fragen erörterte, auf der Außenhaut des Gebäudes eine Patina hinterlassen.
Zwar kannte seine Schwester Dr. Malachai Samuels, den Vizedirektor der Stiftung, schon seit ihrer Jugend, und Robbie hatte den Mann seinerzeit mit Griffin North bekannt gemacht, doch den Hauptsitz hatte er bisher noch nicht betreten. Jetzt stieg er erwartungsvoll die sechs steinernen Eingangsstufen hoch. Jeder Schritt brachte ihn der Lösung eines Rätsels näher,auf das er bei der Durchsicht der Papiere seines Vaters gestoßen war.
Als Robbie begonnen hatte, im Auftrag seiner Schwester nach den Rezepturen für Rouge und Noir zu suchen, hatte er zu seinem Entsetzen ein heilloses Durcheinander vorgefunden. Die Krankheit, die seinem Vater den Geist verwirrte, schien auch die Werkstatt befallen zu haben. Jede Schublade in jedem der Schränke war ausgekippt worden. Alle Bücher waren aus dem Regal genommen und in schiefen Stapeln im Raum verteilt. Sämtliche Behälter mit Ölen, Essenzen und Absolues waren durcheinandergeraten. Langsam und methodisch hatte Robbie begonnen, das Chaos ungezählter Jahre zu bewältigen. Niemand wusste genau, seit wann sein Vater krank war. Louis war immer ein Exzentriker gewesen, und die Grenze zur Unzurechnungsfähigkeit war fließend.
Und dann entdeckte Robbie am Boden eines Pappkartons ein kleines Häufchen Tonscherben. Er nahm die Stücke eins nach dem anderen heraus. Zuerst dachte er, die türkisfarbenen, korallenroten und schwarzen Verzierungen auf der weißen Glasur seien abstrakte Formen, doch als es ihm gelang, zwei Scherben zusammenzusetzen, erkannte er, dass es Hieroglyphen waren. Bei dem Versuch, weitere Teile zusammenzufügen, beugte er sich tief über das zerbrochene Gefäß und bemerkte einen schwachen Duft, nicht mehr als ein Hauch. Doch dieser Hauch bedeutete ihm alles. Er wusste sofort, dass er seine Schwester dazu bringen musste, daran zu riechen. Jac hatte die feinste Nase von allen. Als die Geschwister noch Kinder waren, hatte ihr Vater ihnen zum Test Mischungen ätherischer Öle und Absolues auf Leinenstückchen geträufelt. Robbie riet meist kaum die Hälfte richtig. Jac machte nie einen Fehler. Robbie hatte sich durch konsequentes Üben allmählich verbessert, doch an Jacs naturgegebenes Talent würde er nie heranreichen. Ihr Vater hatte immer gesagt, dass Robbie denTatendrang hatte und Jac den richtigen Riecher. Solange sie zusammenhielten, wäre
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