Das Haus der verlorenen Düfte: Roman (German Edition)
das Geräusch, mit dem er jetzt einen Bonbon bearbeitete, Xie Übelkeit ein.
Die Überraschungsbesuche des milchgesichtigen, stämmigen Parteifunktionärs waren Xie nie willkommen, doch so unmittelbar nachdem er im Internet illegales Filmmaterial angesehen hatte, beunruhigte es ihn besonders. »Danke sehr«, murmelte er zurückhaltend, mit respektvoll gesenktem Blick, wie man es ihn vor langer Zeit gelehrt hatte.
»Magst du einen?«, fragte Chung und hielt ihm eine Tüte mit in Esspapier gewickelten Süßigkeiten hin. »Reisbonbons. Deine Lieblingssorte.«
Xie nahm einen der ekelerregenden Klumpen und legte ihn hinter sich auf einen Schemel. »Ich hebe es mir für später auf. Beim Arbeiten esse ich nicht gern.«
Als Waisenkind in einer Anstalt am Stadtrand von Peking hatte Xie viele Lehrer gehabt. Sie hatten ihn Mathematik, Geschichte, Geographie und Sprachen gelehrt, Natur- und Geisteswissenschaften, Malerei und Violine. Doch Lui Chung war anders als die anderen Lehrer. Von Xies sechstem Lebensjahr an hatte er dem Jungen sechs Jahre lang täglich in zwei Stunden Einzelunterricht eine »moralische Erziehung« angedeihen lassen. Es ging dabei um Ethik, vor allem aber um die Liebe zum Vaterland, zur Partei und zum Volk. Am Beginn der Stunde ließ Chung immer zehn Minuten lang Musik laufen, und am Ende lobte er Xie stets für seine Leistung und bot ihm eine Süßigkeit an.
In dem Augenblick, da Xie seine Hand in die Tüte steckte, überkam ihn jedes Mal Angst. Er stellte sich vor, er würde dabei auf irgendeine Weise seine Finger verlieren, sie würden abbrechen und Chung würde die Tüte wegnehmen, bevor Xie sie wieder herausbekäme.
Om mani padme hum.
So ein kluges Kind er auch war, hatte Xie doch noch nie etwas von Gehirnwäsche gehört. Dennoch begriff er mit Beginn seiner Sonderstunden, dass Chung versuchte, sein Denken zu verändern, und der Unterricht machte ihm Angst. Also lernte Xie, in diesen zwei Stunden täglich sein Bewusstsein zu spalten. Er registrierte noch, was um ihn herum geschah, hörte, wie Chung seine Propaganda ausgoss, und antwortete, wenn nötig. Doch zugleich verwendete er sein Mantra als Schutzschild. Er wiederholte den Satz, bis in seinem Inneren ein Summen anhob, sich nach außen hin verbreitete und alles Störende – Geräusche, Worte und Sorgen – von ihm fernhielt, so dass der Kern seines Wesens unberührt blieb.
Om mani padme hum.
Und im Lauf der Jahre lernte er sogar, diese beiden Formen des Bewusstseins zur selben Zeit aufrechtzuerhalten.
»Mögen Sie auch?« Chung bot Professor Wu seine Süßigkeiten an.
»Ja, danke.« Xies Mentor griff in die Tüte. Mit achtzig war der Leiter des Lehrstuhls für Kalligraphie rüstig und lebhaft wie mancher Fünfzigjährige. Es war seine Arbeit, die ihn so zufrieden und gesund erhielt, behauptete er. Wu hielt seinen Studenten oft Vorträge über den spirituellen Nutzen der Kalligraphie und der Kunst im Allgemeinen, darüber, wie sie den Künstler mit der Geschichte und mit den Kreisläufen des Kosmos in Beziehung setzte, wie sie, selbst wenn sie politisch war, die Politik transzendierte und direkt an das Gute in jedem Menschen appellierte.
»Köstlich«, sagte Wu nach dem ersten Bissen.
Chung nahm sich selbst noch ein Bonbon.
Bald begann sich von den beiden kauenden Männern ein süßlicher Geruch im Atelier auszubreiten. Xie verspürte den starken Drang zu würgen, doch er beherrschte sich.
»Ihr Besuch ist uns eine große Ehre«, sagte Wu zu Chung.
Xie hatte lange gezögert, ehe er Wu von seiner Vergangenheit erzählte. Besser schweigen, als ein Risiko einzugehen. Er hatte seine karmische Aufgabe zu erfüllen, das war sein Schicksal. Wenn er mit irgendetwas anderem Aufsehen erregte als mit seiner Meisterschaft im Umgang mit Pinsel und Tusche, war seine Mission in Gefahr. Doch Wu war einfühlsam. Er hatte gleich bemerkt, dass auf dem Jungen ein schreckliches Geheimnis lastete.
»Professor Wu hat unter anderem erzählt, dass deine Werke im Absolventenwettbewerb den ersten Preis gewonnen haben«, sagte Chung mit vollem Mund. »Meinen Glückwunsch.«
Xie nickte und wandte wieder den Blick ab, als beschämte ihn das Kompliment. »Danke sehr.«
»Bist du nach wie vor mit deinem Studium zufrieden?«
Immer dieselben Fragen. Immer dieselben Antworten.
»Ja, ich bin sehr zufrieden.«
»Die Natur ist ein lohnendes Motiv«, sagte Chung.
»Es freut mich, dass es Ihnen gefällt.« Xie hatte seinen Themenschwerpunkt bewusst wegen seiner
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