Das Haus der verlorenen Düfte: Roman (German Edition)
Kunde, ein Schuster, war seit kurzem verwitwet. Nein, er war nicht so jung und gutsaussehend wie Giles, aber das zählte nicht, wie der Vater betonte.
»Wir können nicht darauf warten, dass du dich ein zweites Mal verliebst«, sagte er. »Eine passende Ehe, die auch dem Herzen gefällt, ist das Beste, was einem passieren kann. Aber es sollte nicht sein. Du wirst nicht jünger, und ich will nicht riskieren,dass der Mann sich eine andere sucht. Außerdem steht er mit den Revolutionären im Bunde. Wenn diese Unruhen tatsächlich in einen Krieg münden, kann er uns von Nutzen sein.«
Als Marie-Geneviève untröstlich blieb, half ihre Mutter ihr zu fliehen und in einen Orden einzutreten.
Jetzt, da sie hilflos in dem sinkenden Boot auf dem Fluss dahintrieb, wurde ihr bewusst, wie widersinnig ihr Entschluss gewesen war. Angesichts der lüsternen Zerstörungswut, mit der sich die Revolutionäre auf alles stürzten, was mit der Kirche zu tun hatte, war das Kloster alles andere als ein sicherer Zufluchtsort gewesen.
Der Priester hörte nicht auf zu beten, als das Wasser höher und höher stieg und an ihren Beinen heraufkroch. Sie dachte an Giles und daran, wie er sein Taschentuch in den Fluss getaucht hatte, um ihr die Tränen fortzuwischen, an jenem Tag, als er ihr erzählte, dass er nach Ägypten wollte. Dass er alte Rezepturen erforschen wollte, mit denen er die parfümierten Handschuhe, die Seifen, Kerzen und Pomaden veredeln und das Haus L’Étoile zur größten Parfümerie von Paris erheben würde. Er freute sich auf das Abenteuer, doch Marie war außer sich vor Angst – zu stark war ihre Ahnung, dass er nicht wiederkäme.
Doch jetzt würde sie ihn bald wiedersehen. Das kalte Wasser trug sie ihm entgegen. Es nahm sie in sich auf und wusch die Spuren des schmutzigen Soldaten und seiner gierigen Hände fort. Giles erwartete sie, das wusste sie. Er hatte ihr versprochen, immer bei ihr zu sein. Sie gehörten zusammen, hatte er gesagt. Sie waren
âmes sœurs
.
Siebenundzwanzig
PARIS, FRANKREICH
MITTWOCH, 25. MAI, MITTERNACHT
Jac wusste, dass die Angst um ihren Bruder, die Sorge wegen der erneuten Halluzinationen – diesmal sogar in Inspektor Marchers Gegenwart – und die Verwirrung, in die Griffins Gegenwart sie stürzte, ihr keine Ruhe lassen würden. Sie zog sich aus und legte sich in ihrem ehemaligen Kinderzimmer zu Bett, doch sie versuchte gar nicht erst, gegen die Schlaflosigkeit anzukämpfen.
Schreckliche Vorstellungen von dem, was Robbie zugestoßen sein mochte, suchten sie heim. Wie ging es ihrem Bruder? War er wirklich in Nantes? Wie sonst hätte man dort seine Schuhe und sein Portemonnaie finden können? Und warum hatte er ausgerechnet den Ort gewählt, an dem sie sich damals so unwohl gefühlt hatte, den Ort, dessen Name allein bei ihr eine so grauenhafte Vision auslöste?
Wieder und wieder dachte sie an die Ereignisse in der Werkstatt zurück und versuchte zu begreifen, warum ihre Krankheit nach so vielen Jahren gleich mit zwei Anfällen zurückgekehrt war. Ihr graute davor, wieder dieses zerrissene Leben zu führen, in ständiger Angst vor dem nächsten Schub, immer auf der Hut vor den ersten Symptomen.
Beim zweiten Mal hatte sie das Gefühl gehabt, mindestens eine Stunde lang abwesend gewesen zu sein, doch als es endlichvorüber war, lagen noch immer Griffins Hände auf ihren Schultern. Die Visionen waren intensiver gewesen als die in ihrer Kindheit und ließen ein Gefühl nackter Angst in ihr zurück.
»Du bist noch da?«, hatte sie verwirrt gefragt.
»Ich bin nie fort gewesen«, hatte Griffin geantwortet.
Seine Gegenwart war tröstlicher, als es ihr lieb war. Wie konnten sie sich nach all den Jahren plötzlich wieder so nahe sein?
»Ist alles in Ordnung, Jac? Du warst mindestens eine Minute lang so weggetreten, als würdest du den Inspektor und mich überhaupt nicht mehr bemerken.«
Eine Minute? Mehr nicht? Was hätte sie dazu sagen sollen? Sie beschloss, es für sich zu behalten, bis sie es selbst besser begriff. Und in Marchers Gegenwart wollte sie schon gar nicht darüber sprechen.
Früh um acht Uhr kehrte Jac frisch geduscht und angezogen in die Werkstatt zurück. Über Nacht war die Kakophonie der Gerüche verstörend intensiv geworden. Trotz der morgendlichen Kühle öffnete Jac die Flügeltür zum Garten und atmete dankbar die frische Luft. Sie hatte Lust auf einen Kaffee und erinnerte sich, dass ihr Vater immer einen Wasserkocher und einen gläsernen
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