Das Haus der verlorenen Düfte: Roman (German Edition)
nach Paris.«
»Nicht Sie. Ich fliege.« Malachai verließ ungern kurzfristig seine Praxis. Die Behandlung der Kinder bedeutete ihm alles. Doch wenn die verschwundenen Tonscherben tatsächlich eine Erinnerungshilfe waren, hatte das Vorrang. Seine kleinen Patienten konnte er ein paar Tage lang von einer Vertretung betreuen lassen. In Frankreich konnte ihn niemand ersetzen.
»Gleich morgen«, sagte Malachai. »Und Sie feuern alle, die in Paris für Sie tätig waren, und finden mir jemanden, der das Wort
unmöglich
nicht kennt.«
Fünfundzwanzig
PARIS, FRANKREICH
MITTWOCH, 25. MAI, 15:45 UHR
Als Jac und Griffin die Werkstatt betraten, wo er ihr die Fotos und seine Übersetzung zeigen wollte, wartete bereits Inspektor Marcher auf sie.
»Kollegen von der Loire haben mich kontaktiert«, sagte er ohne jede Einleitung.
»Ja?«, fragte Jac. Ihr war gar nicht bewusst, wie viel Anspannung selbst in diesem einzigen Wort hörbar werden könnte, bis Griffin sanft ihren Arm berührte.
»Die Schuhe und das Portemonnaie Ihres Bruders sind dort am Flussufer gefunden worden«, erzählte der Inspektor so gleichmütig, als plauderte er über das Wetter.
Jac musste sich setzen. Sie ließ sich auf den Stuhl vor der Duftorgel fallen. »Was heißt das genau?«
»Das wird sich erst herausstellen. Möglicherweise hat jemand die Sachen gestohlen und in den Fluss geworfen.«
»Gestohlen? Seine Schuhe?« Jac atmete tief durch, um der aufsteigenden Panik Herr zu werden. Und obwohl es um ihren verschwundenen Bruder ging, zog plötzlich etwas anderes ihre Aufmerksamkeit auf sich: Der mysteriöse Duft war wieder da. Wie eine Wolke umgab er die Orgel. Schon überkam sie wieder ein leichtes Schwindelgefühl.
»Wieso sollte jemand seine Schuhe stehlen?«
»Wir wissen noch nicht, was passiert ist. Vorerst lassen wir das Gebiet weiträumig durchsuchen«, sagte der Inspektor.
Jac betrachtete die Glasfläschchen, die im Nachmittagslicht funkelten. Sie waren alle blitzsauber. Robbie hatte kein einziges Staubkorn auf der Orgel geduldet.
»Sind Sie denn sicher, dass es seine Sachen sind?«
»Ich fürchte, da gibt es keinen Zweifel.«
Einige der Flaschenetiketten hatte Jacs Großvater von Hand beschriftet. Andere ihr Vater. Einige mussten auch von Robbie sein, wenn er seit drei Monaten hier arbeitete. Sicher hatte er neue Zutaten eingekauft. Doch so sehr sie auch suchte, sie konnte die Handschrift ihres Bruders nirgends entdecken. Er hatte an seiner letzten Wirkungsstätte keinerlei Spuren hinterlassen.
»Glauben Sie etwa, dass er ertrunken ist?« Wieder atmete sie tief ein. Die Luft war stickig geworden. »Das kann nicht sein. Mein Bruder ist ein hervorragender Schwimmer.«
Griffin trat hinter sie und legte ihr die Hände auf die Schultern. Einen Moment lang fühlte es sich an, als sei diese Berührung das Einzige, was sie daran hinderte, vom Stuhl fortzuschweben und sich in der Duftwolke zu verlieren. »Die Loire ist in der Gegend für ihre starke Strömung berüchtigt. Ich hoffe, dass Ihr Bruder irgendwo dort ist und sich womöglich nur leicht verletzt hat. Wenn ja, dann werden wir ihn finden. Wir durchkämmen die Umgebung von oberhalb der Fundstelle bis zur Mündung ins Meer.«
Jac rieb sich die Augen. Ihre Großmutter hatte Robbie und sie einmal in das Château eines Verwandten im Loire-Tal in der Nähe von Nantes mitgenommen. Trotz der wunderschönen Landschaft rund um den majestätischen Fluss fühlte sich Jac dort ruhelos, körperlich unwohl. Gleich in der ersten Nacht hatte sie entsetzliche Alpträume und erwachte erst, als Robbie an ihren Schultern rüttelte. »Es ist nur ein Traum«, versicherteer. »Nur ein Traum.« Die ganze Nacht saß er an ihrem Bett, redete mit ihr und lenkte sie ab, bis die Sonne aufging. Beim Frühstück überredete er ihre Großmutter, früher abzureisen als geplant. »Irgendwie passen Jac und diese Gegend nicht zueinander«, hatte er damals gesagt.
»Wo ist der Fundort?«, fragte Jac den Inspektor. »Wo genau wurden Robbies Sachen gefunden?«
»In der Nähe von Nantes.«
Jac verstand seine Worte und war dennoch heillos verwirrt. Nantes? Was für ein verrückter Zufall.
Sie brauchte frische Luft. Jac wollte aufstehen und die Flügeltür öffnen. Doch bevor sie den ersten Schritt getan hatte, riss der berauschende Duft sie mit sich fort.
Das Letzte, was sie wie aus weiter Ferne wahrnahm, war Griffins Stimme.
»Jac, was …«
Sechsundzwanzig
NANTES, FRANKREICH,
Weitere Kostenlose Bücher