Das Haus der verlorenen Düfte: Roman (German Edition)
Kaffeebereiter benutzt hatte. Wo konnten sie sein? Jac sah überall nur Kisten voller Papiere und Krimskrams. Wenn die Werkstatt nach Robbies monatelangen Aufräumarbeiten immer noch so aussah, wie musste es dann erst davor gewesen sein? Endlich fand sie, was sie suchte, in einem Regal neben einer Dose mit Kaffeepulver von derselben Marke, die ihr Vater am liebsten getrunken hatte.
Sie dachte selten an ihren Vater, doch hier in der Werkstatt kam sie nicht umhin. Unzählige Details führten Jac vor Augen, wer er gewesen war, bevor die Krankheit ihn erfasste – vonder eindrucksvollen Sammlung von Spionageromanen, die in mehreren Reihen hintereinander im Regal standen, bis zu den Dutzenden geschmackvoll gerahmter Fotografien seiner zweiten Ehefrau Bernadette und ihrer beiden Kinder. Hinter diesen Bildern hatte er Fotos von Robbie und Jac in ebenso hübschen Rahmen aufgestellt. Zehn waren es, und auf einem war sogar ihre Mutter zu sehen. Jac nahm das Bild aus dem Regal, wischte den Staub fort, stellte es ganz nach vorn und berührte sanft Audreys Wange.
Das Foto war so viele Jahre alt. Eine Schönheit mit üppigem dunklem Haar saß darauf am Strand von Antibes unter einem roten Sonnenschirm und lächelte glücklich in die Kamera. Das Baby auf ihrem Schoß musste Robbie sein. Jac stand als Dreijährige mit ebenso vollem Haar neben ihrer Mutter und flüsterte ihr etwas ins Ohr.
Jac konnte sich weder an den Urlaub noch an den Tag oder den Moment der Aufnahme erinnern.
Sie schenkte sich einen Kaffee ein und betrachtete das Foto erneut. Was hatte es überhaupt mit Erinnerungen auf sich? Warum konnte sie sich kleinste Details aus dem Leben Verstorbener vorstellen, während sie sich an wichtige Augenblicke aus ihrem eigenen Leben nicht im Geringsten erinnerte?
Als Inspektor Marcher gegen neun die Werkstatt betrat, spürte Jac, wie das viele Koffein ihre Unruhe und ihre Sorge um Robbie noch verstärkte.
Sie setzten sich einander am riesigen Schreibtisch aus der Zeit Ludwigs XIV. gegenüber, der seit dem Tag seiner Herstellung in Familienbesitz war. Jacs Vater hatte im Lauf der Jahre in dem Versuch, den finanziellen Ruin abzuwenden, nach und nach alle wirklich wertvollen Antiquitäten verkauft. Was noch übrig war, wie eben dieser Schreibtisch, war zu abgenutzt, um noch Geld einzubringen.
»Erzählen Sie mir von Ihrer Auseinandersetzung mit IhremBruder«, sagte Marcher. »Wir wissen, dass Sie miteinander im Clinch lagen. Dass Sie unterschiedliche Vorstellungen von der Fortführung des Unternehmens hatten.«
»Wer hat Ihnen das gesagt?« Jac blickte zu Griffin hinüber.
Griffin hatte sie am frühen Morgen mit einem Anruf überrascht. Noch mehr überraschte es sie, wie froh sie war, seine Stimme zu hören. Als sie ihm erzählte, dass Marcher mit ihr sprechen wollte, hatte er angeboten, ihr Beistand zu leisten. Erschöpft und nervös wie sie war, hatte sie nicht nein gesagt.
Griffin schüttelte als Antwort auf ihre unausgesprochene Frage den Kopf. Nein, er hätte so etwas nicht weitererzählt. Woher wusste der Inspektor es also?
Jacs Blick fiel wieder auf die Familienfotos im Regal. Natürlich, dachte sie. Marcher musste mit Bernadette gesprochen haben. Diese Schlange, die den Geschwistern, so lange sie noch die bildhübsche Assistentin ihres Vaters war, immer Pralinen und Madeleines mitbrachte. Dann hatte Bernadette herausgefunden, dass Audrey eine Affäre hatte, und sie verraten. Ihre Mutter hätte diesen Mann sicher früher oder später von allein aufgegeben, und vielleicht wären ihre Eltern ein Paar geblieben, hätte Bernadette dem Vater nicht den Beweis ihrer Untreue präsentiert. Damit begann die Abwärtsspirale, der in Audreys Selbstmord endete.
»Was hat denn die derzeitige Madame L’Étoile noch alles über meinen Bruder und mich zu sagen?«
Der Inspektor senkte den Blick auf sein Notizbuch. Dass er den Anstand besaß, wegzusehen, gefiel Jac an ihm.
»Darüber darf ich leider nicht sprechen, Mademoiselle. Würden Sie mir helfen, die Fehde mit Ihrem Bruder zu rekonstruieren?«
»Fehde? In welchem Jahrhundert leben Sie denn? Wir sind dabei, intensiv zu diskutieren, wie die finanziellen Probleme unseres Unternehmens zu lösen sein könnten.«
»So intensiv, dass Sie einander kaum noch besuchen.«
»Ich lebe in New York und bin oft auf Reisen. Robbie lebt in Paris. Wir sind beide berufstätig. Wie oft können wir einander da schon besuchen? Und was hat das überhaupt damit zu tun, wo er sich jetzt aufhält
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