Das Haus der verlorenen Düfte: Roman (German Edition)
bemerkte sie es: Das Yin-Yang-Symbol aus schwarzen und weißen Kieseln am Fuße des Steins war durcheinandergeraten. Die zwei tropfenförmigen Hälften des Kreises verliefen ineinander.
Das hatte jemand mit Absicht getan. Jac starrte die Kiesel an, als könnten sie das Rätsel für sie lösen. Eine Wolke zog vorüber, und als die Sonne wieder hervorkam, sah Jac vor sich amBoden etwas schimmern. Metall? Sie sah genauer hin. Jemand hatte einige der Kiesel beiseite geschoben, und darunter … Was war das?
Jac ging in die Knie und schob noch mehr Steine zur Seite. Darunter kam eine große runde Platte zum Vorschein. Sie begriff nicht gleich, was es war, dann jedoch erkannte sie es: ein Kanaldeckel. Er lag nicht fest in seiner Verankerung, sondern stand einen Spaltbreit offen, als hätte ihn jemand in großer Eile schließen wollen. Jemand, der auf der Flucht war?
Jac beugte sich vor und beschnupperte den schmalen Spalt zwischen Deckel und Rand. Die kühle Luft dort unten roch säuerlich, nach Moder und vielleicht ein wenig nach Eichenmoos. Tatsächlich. Sie erkannte denselben Geruch, der vormittags die ganze Werkstatt erfüllt hatte, als sie den Flakon mit dem Duft der Treue zerbrach.
Dreißig
LONDON, ENGLAND
DONNERSTAG, 26. MAI, 18:30 UHR
Xie saß in seinem Hotelzimmer in Kensington auf der Bettkante und starrte auf das Telefon. Es war so einfach. Er musste nur den Hörer abnehmen und eine Nummer wählen. Doch Xie blieb reglos sitzen und ließ die Arme hängen.
War das ein Notfall?
Er spürte, wie der Schweiß aus seinen Handflächen in das Laken sickerte. Zehn Sekunden vergingen. Zwanzig Sekunden. Langsam lief ihm die Zeit davon. Die Studenten waren zu einem Empfang im Victoria and Albert Museum eingeladen. In zehn Minuten musste er in der Lobby sein, sonst würden sie nach ihm suchen. Er konnte nicht zulassen, dass sie ihn so verängstigt und in Schweiß gebadet vorfanden.
Xie ging die sechs Schritte zum Fenster, entriegelte es und machte es weit auf. Der Straßenlärm wehte mit einem warmen Luftzug zu ihm herein. Verkehrsrauschen war ihm lieber als die Stille. Wenn es zu leise war, konnte er sein Herz schlagen hören.
Seit seiner Abreise aus China half ihm auch das Meditieren nicht mehr. Er war ständig in Sorge. So viele Jahre lang hatte er auf diese Reise gewartet, so viele Vorbereitungen getroffen. War so viele Risiken eingegangen, indem er Botschaften in seinen Werken verbarg. Hatte Calis Leben und das seines Lehrersriskiert. Und jetzt benahm er sich wie ein verängstigtes Kind. Man hatte ihn angewiesen, nur anzurufen, wenn ein Notfall eintrat. War es jetzt so weit?
Vor einer Stunde hatte er seinen Zimmergenossen dabei erwischt, wie er seinen Schrank durchwühlte. Ru Shan hatte behauptet, er hätte sich vertan.
Xie blickte das Telefon an wie einen schlafenden Drachen, den er lieber nicht wecken wollte. Was, wenn der Anruf zurückverfolgt wurde? Oder wenn die Regierung die Telefonate der Studenten abhören ließ? Konnten sie das hier in London? Was, wenn während des Gesprächs sein Mitbewohner ins Zimmer kam?
Vielleicht wartete Ru längst vor der Zimmertür, um ihm zu folgen, falls er irgendwo hinging, ohne dass es im Reiseplan vorgesehen war. Das war natürlich verboten. Die Studenten durften das Hotel nur als Gruppe und unter Aufsicht verlassen. Dennoch hatten sich die meisten spätabends heimlich davongestohlen. Bisher war niemand erwischt worden.
Xie hatte nicht vorgehabt mitzugehen. So neugierig er auf die fremde Stadt und ihre verbotenen Früchte war, wollte er dennoch jedes Risiko vermeiden. Ihm ging es nicht um die kleinen Fluchten, sondern um die eine, große. Doch wenn er zurückblieb, während die anderen ausgingen, konnte auch das verdächtig sein. Also hatte er sich ihnen angeschlossen und ein paar Bars besucht. Trotz seiner Ängste hatte ihn die westliche Kultur fasziniert.
Wie sehr hätte Cali den Ausflug genossen, die fröhlichen jungen Leute, die Freiheit, nicht beschattet zu werden. Einen ganzen Abend keine Militärpolizei zu sehen.
Aber seine Begleiter und er konnten diese Freiheit nur von außen betrachten, ohne an ihr teilzuhaben. Ihre Regierung schickte nicht einmal eine Gruppe von Künstlern ohne ihre Maulwürfe nach Europa. War Ru ein Spion? Peking bot Studenten,die ihre Kommilitonen denunzierten, Vergünstigungen an. Womit hatten sie Ru geködert?
Ohne Cali und ihr technisches Know-how konnte Xie nichts über den Studenten aus Tsinghua herausfinden. Doch
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