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Das Haus der verlorenen Düfte: Roman (German Edition)

Das Haus der verlorenen Düfte: Roman (German Edition)

Titel: Das Haus der verlorenen Düfte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melisse J. Rose
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schmerzte es ihn, als Ru ihn kurz darauf in einem Ton, der nur von zu viel Wein in zu kurzer Zeit herrühren konnte, verbal attackierte.
    »Du denkst, du bist uns allen so was von überlegen«, sagte Ru und zeigte mit dem Weinglas auf ihn. »Du denkst, deine Bilder sind die besten.« Wein schwappte über den Rand und fiel in roten Tropfen auf den weißen Marmorboden. »Aber du bist nicht besser. Deine Striche sind nicht feiner. Deine Schwünge sind nicht präziser.« Wie um das Gesagte zu bekräftigen,malte Ru mit seinem Glas eine energische Linie in die Luft. Wein spritze Xie ins Gesicht und in die Augen. Rote Burgundertränen liefen ihm die Wangen hinunter und tropften auf sein Hemd.
    Ru stierte vor sich hin, erst selbstzufrieden, dann erschrocken, als ihm klar wurde, dass er bei einem so wichtigen Ereignis eine Szene verursacht hatte.
    Bevor einer der beiden die Sprache wiedergefunden hatte, kam eine winzige alte Dame auf Xie zu und reichte ihm eine Serviette. »Nein, so geht es nicht«, murmelte sie, als er sich damit die Wangen betupfte, packte ihn am Arm und führte ihn weg.
    Sie sah asiatisch aus, klang aber britisch. »Ich zeige Ihnen die Waschräume, da können Sie sich säubern.«
    Sie steuerte auf die vordere Tür zu. »Es tut mir wirklich leid, dass so etwas passieren musste.« Sie trug einen leuchtend roten Anzug und dazu passenden Lippenstift und hielt seinen Arm überraschend fest umklammert. »So ein Pech. Ausgerechnet an einem Abend wie heute.« Hätte er ihr entkommen wollen, dann hätte er Mühe gehabt, ihren Griff zu lösen.
    Als sie die Tür hinter sich ließen, wurde es schlagartig leiser. »Wissen Sie, Ihre Bilder sind tatsächlich besser als die anderen.«
    »Sie beschämen mich.«
    »Ich habe sie mir in den letzten Tagen sehr genau angesehen.«
    »Es freut mich, dass sie Ihnen gefallen.«
    »Sie haben einen subtilen Stil.«
    »Sind Sie eine Kuratorin?«, fragte Xie.
    »Ja. Kalligraphie ist mein Spezialgebiet.«
    »Kommen Sie aus China?«
    »Ursprünglich aus Tibet.«
    Xie spürte, wie ihm ein Schauder über den Rücken rann.
    »Ich habe mir Ihre Bilder sehr genau angesehen«, wiederholtesie und führte ihn einen schmalen, menschenleeren Gang entlang. »Mir ist da einiges aufgefallen.«
    »Nur Gutes, hoffe ich.«
    »Sie haben einige wenig beachtete Themen in Ihre Arbeit einfließen lassen. Leicht zu übersehen, aber nicht zu unterschätzen.«
    Xie hatte so eine Begegnung erst in Paris erwartet. Er hatte nicht zu hoffen gewagt, dass jemand ihm helfen könnte.
    »Da sind wir«, sagte sie vor der Tür zur Herrentoilette. »Finden Sie den Weg zurück allein?«
    »Ja, danke. Ich danke Ihnen.«
    »Also dann. Passen Sie auf sich auf, Xie Ping.«
    Er nickte.
    »Viele Menschen hoffen auf Ihren Erfolg«, flüsterte sie. »Sie werden unterwegs ein Auge auf Sie haben. Suchen Sie nicht nach ihnen. Man wird Sie schon finden. Sie sind ein mutiger junger Mann.«
    »Danke«, sagte Xie noch einmal und verneigte sich.
    Als er wieder aufblickte, war sie schon verschwunden.
    Xie öffnete die Tür zu den Toiletten und steuerte auf ein Waschbecken zu. Den Mann bemerkte er erst, als er direkt hinter ihm war. Ein Schatten im Spiegel. Eine grobe Hand verschloss ihm den Mund. Xie wollte schreien, doch die Hand des Fremden erstickte jedes Geräusch.

Einunddreißig
     
     
    PARIS, FRANKREICH
    DONNERSTAG, 26. MAI, 19:15 UHR
     
    Der Sonnenuntergang spiegelte sich auf der Seine. Gelbtöne wichen einem gedeckten Rosa, das bald darauf ins Lavendelfarbene verblasste. Die Farben tupften die Wasseroberfläche, als hätte ein impressionistischer Maler den Abend zu seiner Leinwand gewählt.
    »Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist«, sagte Jac.
    »Über die Brücke zu gehen?«, fragte Griffin.
    »Essen zu gehen.« Sie hatte ganz vergessen, wie gern er ihr die Worte im Mund herumdrehte. »Was, wenn die Suchteams etwas gefunden haben?«
    Er legte ihr eine Hand auf den Arm und blieb stehen. »Marcher hat deine Handynummer und meine auch.«
    Selbst durch die Jacke hindurch spürte sie den Druck seiner Fingerspitzen. Die jähe Wärme, die von ihnen ausströmte, löste etwas in ihr. Verärgert zog sie ihren Arm weg.
    »Und Robbie würde es mir nie verzeihen, wenn ich zulasse, dass du hungerst«, sagte Griffin.
    Jac fragte sich, ob er sich dabei an die Essenspakete erinnerte, die er ihr damals sonntagabends mitgegeben hatte, oder ob die Anspielung unbewusst war. Sie dachte an das ausgefranste alte Haarband in ihrem Schmuckkästchen

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