Das Haus der verlorenen Düfte: Roman (German Edition)
auch nicht besonders überraschend. In Texten über die Reinkarnation ist oft von Seelenverwandten die Rede.«
Ein Teekessel pfiff, und die Nonne erhob sich. »Entschuldigen Sie mich. Ich habe Tee vorbereitet.« Sie nahm in einer Nische neben der Statue den Kessel von einer kleinen Kochplatte und arrangierte das Teegeschirr auf einem kleinen Tablett.
»Tee im Tempel?«
»Es gibt sogar eine buddhistische Teezeremonie, Chan-Tee. Schon zur Zeit der Westlichen Jin-Dynastie entwickelten die Mönche des Tanzhe-Tempels diesen Weg zur Erleuchtung.« Sie goss die dampfende Flüssigkeit in die Tassen. »Sie pflückten und trockneten Blätter, deren Absud ihnen dabei half, besonders lange zu meditieren.«
Griffin nippte an dem duftenden Getränk. »Der schmeckt gut.«
»O ja. Aber ich vermisse den Buttertee, den meine Großmutter immer gemacht hat«, sagte die Nonne und ließ ihre eigene Tasse sinken.
Griffin nickte. »Yakbuttertee habe ich auch einmal probiert.«
»Das ist der beste. Und Butterkerzen geben ein schöneres, wärmeres Licht als die hier«, sagte sie wehmütig.
»Tibet ist ein wundervolles Land.«
»Das war es. Und das kann es wieder werden. Im Moment leidet es unter der politischen Situation. Es ist eine Tragödie.«
»Absolut«, sagte Griffin, der spürte, dass sich das Gespräch jetzt seinem eigentlichen Thema näherte.
»Monsieur North, bis zum Eintreffen Seiner Heiligkeit in Paris sind es nur noch zwei Tage. Ihm liegt sehr viel daran, diese Erinnerungshilfe an seine Anhänger weitergeben zu können. Wenn es irgend möglich ist, Monsieur L’Étoile zu finden, würden wir Ihnen gern unsere Hilfe anbieten.«
»Die Polizei tut, was sie kann.«
»Die Polizei?« Die Nonne klang überraschend sarkastisch. »Die ist zu bürokratisch, um ihn rechtzeitig zu finden. Wir können Ihnen und seiner Schwester zu Diensten sein.«
Heute Vormittag, nachdem Inspektor Marcher gegangen war, hatte Jac Griffin gebeten, ihr bei der Suche nach Robbie zu helfen. Sie war sich sicher, dass er lebte und versuchte, mit ihr Kontakt aufzunehmen. Der Anruf kurz nach ihrer Ankunft in Paris, bei dem sie nur Atemgeräusche gehört hatte, Robbies Schuhe im Loire-Tal, der Duft der Treue, der am Vortag noch nicht da gewesen war – das alles hielt sie für Zeichen von Robbie, mit denen er sagen wollte: »Ich lebe. Finde mich. Hilf mir.«
Aber wie konnten der Lama und diese Nonne wissen, was Jac und er vorhatten?
»Wir müssen Monsieur L’Étoile finden, bevor die chinesische Regierung es tut. Sie versuchen, die Macht Seiner Heiligkeit zu schwächen, indem sie die Reinkarnation gesetzlich so regeln, dass niemand ohne ihre Genehmigung Lama werden kann. Das heißt nicht etwa, dass sie an die Reinkarnation glauben, sondern sie wollen sichergehen, dass niemand, über den sie keine Kontrolle haben, Tibet regieren kann.«
»Verstehe.«
»Die Welt steht auf unserer Seite, aber sie handelt nicht danach. Was Monsieur L’Étoile gefunden hat, könnte sich als mächtige Waffe in unserem Kampf um Anerkennung erweisen. Selbst wenn nur noch die Legende übrig ist, sollte man die Macht der Worte nicht unterschätzen. Schon allein der Gedanke, dass es einen Weg geben könnte, die Wiedergeburtender Lamas unzweifelhaft zu identifizieren, könnte Zweifel am Vorgehen der chinesischen Regierung in Tibet wecken und unserer Sache nützen.«
»Es ist doch bloß ein Mythos, der auf ein Tongefäß geschrieben wurde.«
»Was ist ein Mythos?«, fragte die Nonne.
»Eine Geschichte.«
»Eine wahre Geschichte?«
»Nein. Eine emotionale und spirituelle Wegbeschreibung, an der man sich orientieren kann.«
Die Nonne schüttelte betrübt den Kopf.
»Wie kommen Sie darauf, dass Robbie lebt und seine Schwester ihn suchen will?«, fragte Griffin. »Woher kennen Sie ihre Pläne?«
»Wissen Sie, was eine Tulpa ist?«
»Ja«, sagte Griffin. Merkwürdig – auch Robbie hatte vor kurzem Tulpas erwähnt.
»Glauben Sie, dass es Tulpas gibt?«
»Nein.«
»Als mein Vater noch ein Junge war und in Tibet im Gebirge lebte, waren die Winter immer sehr hart. Doch einmal war es besonders schlimm, und mein Großvater wurde sehr krank. Meine Großmutter probierte alle Heilmittel aus, die sie kannte, doch nichts half. Wegen eines Schneesturms konnte sie keine Hilfe holen, und die ganze Familie war der Verzweiflung nahe. Als der Sturm am dritten Tag noch immer wütete, rechnete niemand mehr damit, dass mein Großvater ihn überleben würde. Das Fieber röstete ihn bei
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