Das Haus der verlorenen Düfte: Roman (German Edition)
weil nur ich ihm den Weg zu Seiner Heiligkeit weisen kann.«
Neunundzwanzig
16:09 UHR
Jac saß in ihrem ehemaligen Kinderzimmer am Fenster, blickte in den Garten hinunter und versuchte, sich in Robbie hineinzuversetzen. Wohin würde er gehen, was würde er tun, wenn er in Schwierigkeiten war? Als ihr Handy klingelte und auf dem Display der Name Alice Delmar erschien, nahm sie ab.
»Das mit Robbie tut mir sehr leid«, sagte sie mit ihrem resoluten britischen Akzent.
Jac nickte, bis ihr einfiel, dass Alice sie nicht sehen konnte, dann bedankte sie sich.
»Gibt es Neuigkeiten?«, fragte Alice.
»Nein, nichts.«
Einen Moment lang schwiegen sie beide. Jac stellte sich ihre Freundin vor, wie sie auf der anderen Seite des Atlantiks in ihrem Büro saß und auf den Central Park hinuntersah. Alice und ihr Mann, der Eigentümer eines großen Kosmetikunternehmens, waren alte Freunde ihres Vaters. Sie hatten Jac immer wie ein Familienmitglied behandelt und in den Ferien zu sich eingeladen. Jac hätte alles dafür gegeben, jetzt bei Alice zu sein, mit ihr im Sant Ambroeus zu Abend zu essen, Wein zu trinken und sich ihre Klagen über viel zu teure Parfümzutaten und sinkende Verkaufszahlen anzuhören.
»Kann ich irgendetwas für dich tun? Mich in ein Flugzeugsetzen und einfach bei dir sein?« Ihr Vorschlag war wie eine warme, tröstliche Umarmung.
»Nein, das brauchst du nicht. Die Polizei tut schon, was sie kann.«
»Das ist nicht genug, oder? Schließlich haben sie Robbie noch nicht gefunden.«
»Das stimmt. Aber im Moment brauche ich nichts weiter, wirklich nicht.«
»Ich höre doch, dass da noch etwas ist. Was ist los, Jac? Machst du dir Sorgen wegen der Kredite? Wenn die französischen Banken euch die Daumenschrauben anlegen, können wir das bestimmt regeln.«
Alice leitete die Parfümabteilung der Firma ihres Mannes. Es war ihre Idee gewesen, Rouge und Noir zu kaufen, um die Krise des Hauses L’Étoile zu beenden.
»Danke, aber bis auf weiteres kommen wir schon klar.« Jac starrte aus dem Fester. Die Buchsbaumsträucher unter ihr, die sonst pyramidenförmig beschnitten waren, hatte lange niemand mehr gestutzt. Sie verloren allmählich ihre Form.
»Was ist es dann?«
»Die Polizei glaubt, ich hätte etwas mit Robbies Verschwinden zu tun, weil er den Verkauf abgelehnt hat, und ich …«
»Das ist ja grotesk.« Alices Stimme bebte vor Zorn. »Ausgerechnet du? Er ist dein Bruder. Du liebst ihn über alles.«
Jac presste die Stirn gegen die glatte, kühle Fensterscheibe. Einmal nichts riechen zu müssen war eine Erleichterung.
Draußen kam Wind auf, die Blätter tanzten nur für Jac, und ein Sonnenstrahl fiel auf den gut zwei Meter hohen Obelisk im Zentrum des Labyrinths. Angeblich war er ein Original aus der Zeit der altägyptischen Pharaonen. Es war eine der vielen Familienlegenden, dass Giles L’Étoile das steinerne Gebilde zusammen mit den anderen Kostbarkeiten aus Ägypten mitgebracht hatte. Jac wusste, dass es ebenso gut eine Fälschung ausdem neunzehnten Jahrhundert sein konnte. Niemand hatte das je überprüft. Ihre Familie glaubte lieber an die Geschichten, die das Fundament des Hauses L’Étoile bildeten. Und Jac wusste, dass der Obelisk von oben bis unten aus weißem Kalkstein bestand, doch jetzt, von hier oben gesehen, sah es aus, als sei die Spitze mit einer schwarzen Schicht bedeckt.
Sobald sie aufgelegt hatte, ging Jac in den Garten hinaus. In den Gängen zwischen den jahrhundertealten Zypressenhecken atmete sie tief durch und genoss den erfrischenden, würzigen Harzgeruch der Pflanzen. Als Kind war sie diese Wege hunderte Male gegangen. Der Geruch war ebenso ein Gestaltungselement dieses Kunstwerks wie die Kiesel, mit denen der Pfad gepflastert war.
Im Zentrum des Labyrinths angekommen, sah sie hoch. Es war also kein Schatten, keine optische Täuschung gewesen. Auf der pyramidenförmigen Spitze des Obelisken war etwas Dunkles. Jac reckte sich hoch, um es zu berühren. Etwas Schwarzes klebte an ihren Fingerspitzen. Sie roch daran. Es war Erde, wahrscheinlich aus diesem Garten. Wie kam Erde oben auf den Obelisk?
Jac setzte sich auf die Bank. Die Luft war feucht, und ihre Haare kräuselten sich. Plötzlich war ihr kühl, als hätte dieses neue Rätsel die Atmosphäre verändert. Jac hätte gern einen Pullover gehabt, wollte aber nicht ins Wohnhaus zurück. Sie musste herausfinden, was hier los war.
Warum klebte dort oben Erde? Jac sah sich nach möglichen Hinweisen um. Da
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