Das Haus der verlorenen Düfte: Roman (German Edition)
mindestens ebenso sehr vermisste er sie ob ihres Muts und ihrer Leidenschaft.
Es klopfte an die Tür.
Xie hatte seine Chance verpasst. Er verfluchte seine zögerliche Art. Cali hätte ihn ausgelacht und ihn einen Feigling genannt. Zu Recht.
»Ja?«
»Ich bin es, Lan. Ich gehe jetzt runter. Kommst du mit?«
Er hätte nicht antworten sollen. Schon wieder so eine Dummheit. Seine Nervosität hinderte ihn, klar zu denken.
Er öffnete die Tür. »Komm rein. Ich bin gleich fertig, warte kurz.«
Die junge Frau von der Universität Peking war nicht nur die beste Kalligraphin in der Reisegruppe, sondern auch die schüchternste. Sie lächelte verhalten, als sie eintrat, und schlug die Augen nieder.
Lan und er hatten im Flugzeug nebeneinandergesessen. Als Xie auffiel, wie schweigsam sie war, hatte er alles getan, um ihre Schüchternheit zu respektieren, damit sie sich wohlfühlte. Seitdem suchte sie bei jeder Gelegenheit seine Nähe: auf der Busfahrt vom Flughafen zum Hotel, bei den Mahlzeiten und bei den Ausflügen.
Xie wusch sich im Badezimmer das Gesicht und sah in den Spiegel. Aus seinen Augen sprach die Angst.
Om mani padme hum.
Viermal intonierte er innerlich sein Mantra. Dann kämmte er sich die Haare, zupfte sein Hemd zurecht, nahm sein Jackett vom Haken und schlüpfte hinein.
In der riesigen Eingangshalle des Victoria and Albert Museum trafen die marmorne Pracht des neunzehnten Jahrhunderts und die klaren Linien zeitgenössischen Designs aufeinander. Lan trat neben Xie über die Schwelle und betrachtete die orangefarbenen, gelben und roten Transparente mit den Namen der aktuellen Ausstellungen.
»Ich hätte mir nie träumen lassen, dass meine Werke an so einem Ort ausgestellt werden könnten. Du etwa?«, sagte sie.
Erst da wurde es Xie bewusst, was diese Reise bedeutete. Nicht insgeheim, sondern ganz offiziell. Seine Arbeiten waren ausgewählt worden. Er hatte Kunstwerke geschaffen, die diese Auszeichnung wert waren. Was sonst noch auf dieser Reise geschehen würde, stand in den Sternen, doch Xie wusste, dass er es seinen Lehrern und sich selbst schuldig war, zumindest einen Augenblick innezuhalten und sich all das bewusst zu machen. Die Schwünge der Tinte auf dem Papier, die Konzentration, die nötig war, damit der Pinsel tanzte, statt zu holpern, all die entbehrungsreichen Jahre – sie hatten ihm nicht nur seine Identität wiedergegeben, nicht nur Seiner Heiligkeit genützt. Sie hatten einen Wert für sich. Die Botschaft auf dem Papier. Die friedvolle Poesie dieser Kunstform.
Auch das war bedeutend, was auch immer als Nächstes geschehen mochte.
Zusammen mit den anderen folgte Xie den Betreuern in die Abteilung für chinesische Bildhauerei. Die hohen Fenster wiesen auf einen Garten mit einem ovalen Teich hinaus. Buttrig goldgelbes Licht spiegelte sich im Wasser und tanzte an der Decke des Saals.
Ihre Kalligraphien hingen an dünnen Stellwänden aus Stoff, die die Kuratoren im Saal verteilt hatten. Lan und Xie wanderten durch die Gänge, die dadurch entstanden waren – ein Arrangement, das in sich selbst ein Kunstwerk war. Aus den Ausstellungsstücken an den Wänden und an den Raumteilernergab sich ein ganzes Dorf der chinesischen Kunst. Alle Werke besaßen, aus welchem Jahrtausend sie auch stammten, dieselbe Schlichtheit und Kraft.
Ja, er würde noch viele sorgenvolle Stunden vor dem großen Tag verbringen, viel Zeit brauchen, um seine Furcht zu überwinden und sein Ziel zu erreichen. Heute jedoch ging es um die Kunst. Sie sprach zu ihm. Er hörte zu. Erwies ihr Respekt, so gut er konnte. So, wie er es als Kind von den Mönchen gelernt hatte, die dann im brennenden Kloster ihr Leben ließen. Mit Achtsamkeit.
Professor Wu winkte Xie und Lan zu sich und führte sie zur hinteren Wand des Saals. »Die Arbeiten könnt ihr euch später ansehen. Jetzt müssen wir uns bei unseren Gastgebern bedanken.«
Es gab ein kleines Büffet mit Nüssen, Schnittchen, Wein und Säften. Rechts davon hatten der chinesische Botschafter in Großbritannien und einige seiner Mitarbeiter Aufstellung genommen, um die Studenten und die Gäste zu begrüßen.
Als Xie an der Reihe war, seinen Landsleuten die Hand zu schütteln, verbeugte er sich tief und sprach so leise und einsilbig, wie er es sich in seiner Kindheit angewöhnt hatte. Keiner der Honoratioren schien sich für ihn mehr zu interessieren als für alle anderen Studenten. Xie war erleichtert. Er wollte es um jeden Preis vermeiden aufzufallen.
Umso mehr
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