Das Haus der verlorenen Herzen
Abwehrreaktion auf, die dann nicht mehr unter Kontrolle zu bringen war.
Dr. Volkmar kümmerte sich in den nächsten Tagen nur um eine Vervollkommnung der Operationstechniken. Die in der chirurgischen Welt herumgeisternde Ansicht, eine partielle Herzverpflanzung könne unter Umständen möglich sein, hatte er nach vielen Versuchen schon in München aufgegeben. Für ihn war eine Ganztransplantation das Ziel. Ein neues Herz gegen ein altes Herz – nicht nur ein Teil von ihnen.
Dr. Nardo und das Ärzteteam, das Volkmar zur Verfügung stand, erlebten zum erstenmal, was es heißt, wenn ein Mann von seiner Idee besessen ist. Es gab keine geregelte Arbeitszeit mehr, keine Stunden, keine Uhr … An Affen, Hunden, Katzen, Schweinen und Schafen wurde operiert, und zum erstenmal probierte Volkmar auch den Demichowschen Gefäßklammerapparat aus, an einer der Leichen, die im Kühlraum aufbewahrt wurden und die, wie Soriano erzählt hatte, von den Hinterbliebenen abgekauft worden waren. Es zeigte sich dabei, daß die Neukonstruktion kühn und gut, aber noch nicht vollkommen war. Genau das, was Volkmar schon vorhergesagt hatte und weshalb er sich entschlossen hatte, eine eigene Gefäßnahtmaschine zu konstruieren.
»Was fehlt?« fragte Dr. Soriano, als Volkmar sich nach sechs Tagen an ihn wandte.
»Ich benötige einen Ingenieur für Feinmechanik. Ich weiß, wie die Maschine funktionieren soll und kann, aber ich bin kein Techniker, ich kann so ein Ding nicht bauen.«
»Ich werde den besten Feinmechaniker auftreiben, den Italien zu bieten hat«, sagte Dr. Soriano. Sie saßen zu dritt auf Volkmars Dachgarten: Don Eugenio, Volkmar und Loretta. Und sie ahnten nicht, was gerade zu dieser Stunde in Palermo geschah.
Anna hatte ihren freien Tag genommen, den ersten freien Tag, seit sie Lorettas Zofe war. Und sie hätte ihn auch nie genommen, wenn Loretta nicht in der entscheidenden Nacht bei Volkmar geblieben wäre.
In dieser Nacht hockte Anna weinend in ihrem Bett, hieb in die Kissen, zerriß das Bettuch, sprang auf und rannte in dem kleinen Zimmer hin und her, von der Tür zum Fenster, von Wand zu Wand, riß sich an den eigenen Haaren und lief dann hinunter in Lorettas Wohnung, bettelte die Madonnen im Salon an, saß bis zum Morgengrauen herum und wartete, und vor ihrem inneren Bild vollzog sich das Geschehen, diese herrliche Verschmelzung zweier Körper, von der sie immer geträumt hatte. Und diesen Traum hatte Loretta ihr jetzt geraubt.
Am nächsten Morgen merkte niemand ihr an, wie sehr sie in der Nacht gelitten hatte. Doch das Glück, das Loretta ausstrahlte, verbrannte ihre Sehnsucht zu Haß. Enrico war für sie verloren, das wußte sie jetzt. Aber sie wußte auch, daß Dr. Enrico Volkmar nicht freiwillig in diesem Hause lebte, auch wenn sich vieles nach dieser Nacht ändern würde. Er war als Gefangener hergekommen, er war für die Welt jenseits der Mauern von Solunto tot – und das würde er bleiben, auch wenn Loretta in seinem Bett lag.
An diesem Abend kaufte sich Anna in Palermo ein kleines Tonbandgerät und drei kleine Tonbänder. Sie konnte nicht gut schreiben, ihre Schrift war ungelenk und kindlich und hätte sie verraten können. Aber sprechen konnte sie. Sie ließ sich das Tonbandgerät erklären, wanderte dann in den Orto Botanico und setzte sich abseits der Wege in ein dichtes Bambusgestrüpp. Dort besprach sie die drei Tonbänder, hielt sich beim Sprechen das Taschentuch vor den Mund und senkte ihre Stimme, so tief sie konnte, um einen Mann zu imitieren.
Sie spielte ein Band zur Kontrolle ab, war zufrieden mit dem Ergebnis und lief in die Stadt zurück. Dort steckte sie je ein Tonband bei den drei Zeitungen Palermos in den Briefkasten, aß dann zufrieden in einem kleinen Ristorante eine Portion Lasagne und trank einen Viertelliter Wein.
Ein junger Mann, der sie die ganze Zeit beobachtete, lächelte sie an, und sie lächelte zurück. Das Herz tat ihr weh, als der Junge an ihren Tisch kam und sich neben sie setzte.
»Du bist ein bezauberndes Mädchen!« sagte er geradeaus. »Wollen wir zusammen schlafen? Ich bin Maler. Kunstmaler. Ich verstehe was von Körpern! Du wärest ein herrliches Modell! Gehen wir? Ich habe ein kleines Zimmer unterm Dach. Ich fange erst an, weißt du. Aber ich spüre, du kannst mir Glück bringen. Willst du mit mir schlafen?«
Sie nickte und ging mit. Und während sie Arm in Arm durch die nächtlichen Straßen von Palermo gingen, dachte sie an Dr. Volkmar und nahm Abschied von ihm und
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