Das Haus des Buecherdiebs
Während sie nachdenklich und zweifelnd die Zeilen überflog, zog der Mann plötzlich etwas aus seiner Manteltasche und schlug ihr damit auf den Schädel. Schwer verletzt, konnte die Witwe noch eine knappe Aussage machen. Wenige Tage später war |44| auch sie tot. Der unheimliche Besucher hatte in ihrer Wohnung kein Geld gefunden und war vermutlich durch irgendetwas aufgeschreckt und vertrieben worden. Im Treppenhaus war er an Henriette, dem jungen Dienstmädchen der Kunhardt, vorbeigeeilt. Das ahnungslose Mädchen hatte ihn freundlich gegrüßt, da sie ihn flüchtig aus der Herberge von Otto Höpffner kannte, in der sie früher gearbeitet hatte.
Die Polizei folgte der Spur und befragte den Wirt. Bei ihm verkehrten die Gelehrten und Kirchenleute aus dem Umland, wenn sie nach Leipzig kamen, um geschäftliche Angelegenheiten zu regeln oder Bücher zu besorgen. Unter den Stammgästen war auch ein Pfarrer aus Poserna, der am Tag des Verbrechens angereist, aber offenbar nicht in der Stadt geblieben war.
Wenig später wurde Magister Johann Georg Tinius in Poserna verhaftet. Man fand bei ihm einen kleinen Hammer, den man gut in einer Manteltasche verstecken konnte und der genau zu den Kopfwunden der Witwe passte. Die Handschrift des Verdächtigen ähnelte jener des Bittbriefes, der bei dem Opfer gefunden worden war. Einige Zeugen sagten aus, sie hätten den Pfarrer schon am Tag vor dem Überfall in dem Haus der Witwe Kunhardt umherschleichen sehen. Magister Tinius leugnete alles, doch seine Erklärungsversuche brachten ihn nur in immer größere Schwierigkeiten. Er bemühte sich um Zeugen, die seine Unschuld beweisen sollten, und gab ihnen schriftlich Anweisung, wie ihre Aussagen lauten müssten. In einem dieser Briefe stellte er einen Bezug zu dem Überfall auf Friedrich Wilhelm Schmidt |45| her – einen Zusammenhang, den die Polizei bisher übersehen hatte.
Die Beamten fanden schnell heraus, dass Tinius auch zum Zeitpunkt des ersten Verbrechens in Leipzig gewesen war und dass er sich ein paar Wochen später Bücher im Wert von 300 Louisdor gekauft hatte, obwohl sein geringes Einkommen solche Extravaganzen kaum gestattete. Tatsächlich hatte er sich schon früher gegen den Vorwurf der Unterschlagung von Kirchengeldern verteidigen müssen. Des Öfteren hatte er unter Geldsorgen gelitten. Wie sich herausstellte, waren diese Sorgen nicht zuletzt Folge einer überaus kostspieligen Leidenschaft: Tinius war ein hemmungsloser und unersättlicher Bücherwurm.
Der Sohn eines armen Schäfers aus der Niederlausitz hatte schon als Knabe durch eifrige Bibellektüre auf sich aufmerksam gemacht und mit Hilfe eines wohlmeinenden Pastors das Gymnasium in Wittenberg besucht. Nach einem Studium der Theologie arbeitete er als Lehrer in Schleusingen, wechselte 1798 in eine Pfarre in Thüringen und wurde 1809 nach Poserna, einer kleinen Gemeinde in der Nähe von Leipzig, berufen. Dort führte er ein unauffälliges Leben, heiratete nach dem Tod seiner ersten Frau ein zweites Mal, hatte vier Kinder und war allseits als gebildeter, fleißiger und umgänglicher Seelsorger geschätzt. Sein biederer Lebenswandel passte nicht zum Bild eines skrupellosen Raubmörders, der zwei alte Leute aus Geldgier erschlagen hatte – auch dann nicht, wenn man seine große Passion, das Sammeln von Büchern, berücksichtigte.
|46| Tinius liebte Bücher. Er las und studierte sie sorgfältig und nutzte sie als Quelle für seine eigenen gelehrten Abhandlungen. Wie viele wohlfeile Druckwerke der Magister bis zum Jahr seiner Verhaftung angehäuft hatte, ist nicht genau überliefert. Es dürften zwischen dreißig- und sechzigtausend Bände gewesen sein. Er fuhr häufig nach Leipzig, um seine Bibliothek zu ergänzen, kaufte nicht nur einzelne Exemplare, sondern ganze Sammlungen und Nachlässe und betrieb einen schwunghaften Handel mit den Duplikaten. Selten konnte er einer bibliophilen Versuchung widerstehen, und so konnte es durchaus geschehen, dass er bei einer Auktion weit über die geringen finanziellen Mittel, die ihm zur Verfügung standen, hinausging und im großen Stil Schulden machte. Aber taugte dies als Tatmotiv?
Die Indizien und Zeugenaussagen reichten zumindest für eine Amtsenthebung und eine Anklage wegen zweifachen Mordes. Der Prozess wurde jedoch bald zur Farce und sollte sich über Jahre hinziehen. Die Aussagen erwiesen sich als ungenau und widersprüchlich, es gab Manipulationen und absurde Gerüchte, und schließlich entstand durch die Teilung
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