Das Haus des Buecherdiebs
Sachsens im Jahr 1815, mit der Poserna plötzlich unter preußischer Herrschaft stand, ein heilloses bürokratisches Durcheinander von Zuständigkeiten, Verantwortlichkeiten und unübersichtlichen politischen Interessen. Magister Tinius, der zehn Jahre auf sein Urteil wartete, wurde in dieser Zeit mehr und mehr als Schreckensgestalt hingestellt. Immer neue Verbrechen dichtete man ihm an. Bald kursierten Geschichten über einen maskierten Räuber, |47| der Postkutschen überfiel, der Herren mit vergiftetem Schnupftabak betäubte und Damen mit narkotisch parfümierten Blumensträußen nicht nur die Sinne raubte, sondern auch den Schmuck und das Bargeld. Und all diese Verbrechen hatten nur den Zweck, mehr und mehr Geld für neue Bücher herbeizuschaffen!
1823 wurde Magister Tinius wegen Mord an Christiane Kunhardt zu zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt. Der Überfall auf Friedrich Wilhelm Schmidt konnte ihm nicht zweifelsfrei angelastet werden. Die Untersuchungshaft wurde ihm nicht angerechnet, so dass er insgesamt zweiundzwanzig Jahre hinter Gittern verbrachte. Im Gefängnis quälte ihn unablässig die Sorge um seine geliebte Büchersammlung, die bereits 1821 auf Anweisung des Gerichts in Leipzig versteigert worden war. In der Trostlosigkeit seiner schäbigen Zelle haderte er mit dem Schicksal, beharrte auf seiner Unschuld und widmete sich dem Schreiben theologischer Traktate. Es gab sogar Gerüchte, er habe aus dem Gedächtnis ein hebräisches Lexikon verfasst.
1835 wurde er aus der Haft entlassen. Die letzten Jahre seines Lebens verbrachte er einsam, ohne Freunde und Familie, die sich schon während des umständlichen und schier endlosen Prozesses von ihm distanziert hatten. Er lebte von einer kärglichen Rente und kleinen Veröffentlichungen, doch hoffte er noch im hohen Alter, seinen Ruf wiederherstellen zu können. Die Wahrheit sollte endlich ans Licht kommen, die Wahrheit über seine Unschuld, über die Ungerechtigkeit der Justiz und die Schlampigkeit der Beamten, die Wahrheit über das |48| Leben und den Tod, über alles und nichts. »Welche Wege der Prüfung ich gemacht habe, wird die in diesem Jahre noch erscheinende Geschichte meines Kriminalprozesses offenbaren. Seit sechs Jahren lebe ich hier in Zeitz kümmerlich von der Schriftstellerei, wobei die Buchhändler die Körner und ich die Spreu bekomme; denn die mir im hiesigen Landarmenhause angewiesene Verpflegung kann ich, ohne bald jenseits versorgt zu werden, nicht annehmen.«
Die Wahrheit sollte man nie erfahren. Die tapfer angekündigten Memoiren des unglücklichen Magisters blieben ein Fragment, das keine Antwort lieferte und lange vor den düsteren Ereignissen in Leipzig abbrach. Wer das Rätsel zu lösen versucht, kann sich durch Berge verstaubter Prozessakten wühlen oder die rund dreihundert Artikel und Abhandlungen, Theaterstücke und Romane lesen, die in den letzten zweihundert Jahren zu diesem Thema verfasst wurden. Doch Tinius wird, selbst wenn er wirklich unschuldig war, wohl auch weiterhin als finstere Gestalt in den Annalen des Bücherwahns verewigt bleiben. Man könnte seinen Fall auch als Beleg für eine These des Sozialphilosophen Herbert Spencer heranziehen: Wenn man eine gute Geschichte hat, will man von den historischen Fakten nichts wissen.
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|49| Von Jägern und Sammlern
Der Stein der Weisen sieht dem Stein der Narren zum Verwechseln ähnlich.
Joachim Ringelnatz
Die Bibliomanie ist, wie Benjamin Franklin einmal treffend bemerkte, ein »sanfter Wahn«, der nicht unbedingt dazu geeignet ist, skrupellose Mörder wie Don Vincente oder zwielichtige Figuren wie Magister Tinius hervorzubringen. Zumeist erzeugt die leidenschaftliche Gier nach Büchern nur skurrile Käuze und verschrobene Einsiedler. Dass aber auch die friedliche Form dieser Sucht tragisch enden kann, zeigt das Schicksal von Homer und Langley Collyer.
Die Brüder bewohnten ein heruntergekommenes Sandsteinhaus in der 5th Avenue in Harlem, New York. Im März 1947 ging bei der Polizei ein anonymer Telefonanruf ein. Die Beamten durchsuchten daraufhin das Haus der Collyers, das mit riesigen Zeitungs-, Zeitschriften- und Bücherstapeln vollgestopft war. Außerdem gab es dort siebzehn Klaviere, einige ausgebaute Automotoren und Teile eines Pferdeskeletts. Die Fenster waren zugenagelt und hinter den Papierbergen verborgen, es gab kein elektrisches Licht, kein Gas, und auch die Wasseranschlüsse funktionierten nicht. Man fand Homer tot in einem Sessel. In jungen Jahren
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