Das Haus des Buecherdiebs
Baldwin nahm ihren Vater beim Wort und begann mit dem systematischen Erwerb von Kinderbüchern des 19. und 20. Jahrhunderts. Der Zustand der Bücher war ihr egal, sie schätzte es sogar, wenn ein kostbares und seltenes Exemplar kindliche Gebrauchsspuren aufwies und mit Schokoladenflecken, Marmeladenklecksen, Kritzeleien und familiären Widmungen versehen war. Auf Reisen suchte sie stets sämtliche erreichbare Antiquariate auf, begutachtete ihr Angebot |56| und kaufte zu einem Pauschalpreis die Regale leer. Ihren Urlaub verbrachte sie gern in London, um mehrere Wochen lang von einem Bookshop zum nächsten zu ziehen, in der steten Absicht, ihre Sammlung zu ergänzen. Als sie an der Louisiana State University in Baton Rouge emeritierte, wurde ein Kollege auf ihre eindrucksvolle Privatbibliothek aufmerksam. Sie bekam ein Angebot der Universität in Gainsville, Florida, die ihre Kinderbuchsammlung übernehmen und der Forschung zugänglich machen wollte. Ruth Baldwin wurde der Posten einer Kuratorin und die volle Kontrolle über die neue Bibliothek zugesichert. Sie stimmte zu und nutzte die Gelegenheit, um den Bestand auf rund 100 000 Bände aufzustocken. Ihre Aufsichtsfunktion nahm sie überaus ernst. Bis ins hohe Alter wachte sie mit Argusaugen darüber, wer in ihrer Bibliothek ein und aus ging. Als einmal eine junge Bibliotheksangestellte ihre kleine Tochter zur Arbeit mitnahm, durfte das Mädchen nicht eintreten und musste im Lesesaal auf die Mutter warten. Die weltweit größte Kinderbuchsammlung durfte nicht von Kindern genutzt werden!
Weitaus großzügiger zeigte sich der Hamburger Graphiker und Verleger Mirko Schädel. Nach Jahren des Sammelns und Katalogisierens seltener Kriminalromane ließ er seine Schätze und Kostbarkeiten nicht etwa in finsteren Archiven verstauben, sondern renovierte eigenhändig eine alte Scheune in Butjadingen an der Nordsee, um dort das erste und einzige Kriminalliteraturmuseum Deutschlands zu eröffnen. Hier präsentiert |57| der Krimi-Experte seither zahlreiche Kleinode des frühen 20. Jahrhunderts; unbeschreiblich selten aufzufindende Buchreihen wie »Lukas Hull«, die »Parzenbücher« des Hamburger Alster-Verlags und die »Kriminalromane aller Nationen« von Moewig und Höffner, Dresden, wo um 1900 vergessene Romane wie »Romney Pringle – Sechs Gaunerstücke eines Weltmannes« von Clifford Ashdown oder »Im Labyrinth der Sünde« von Anna Katherine Green erschienen, deren knifflige und überaus erfolgreiche Detektivgeschichten Arthur Conan Doyles Sherlock-Holmes-Romanen vorausgingen. Weitere englische Klassiker wie Wilkie Collins, Joseph Sheridan Le Fanu, Mary Braddon und Ellen Wood haben bis heute nichts von ihrer Spannung und ihrem nostalgischen Reiz verloren. Wer das Museum besucht, bekommt zumindest eine Vorstellung davon, wie viele Bücher im Lauf der Zeit verlorengegangen wären, gäbe es Sammler wie Mirko Schädel, Ruth Baldwin und Louis Szathmary nicht. Und wer nicht zum Opfer seiner eigenen Leidenschaft werden will, wie Don Vincente und Charles Chadenat, kann hier lernen, sein Glück mit anderen zu teilen, die Türen zu den privaten Wunderkammern zu öffnen, um so das Interesse an Vergessenem und Verborgenem wachzuhalten. Vielleicht liegt gerade darin der geheime Grund und die wahre Zukunft der Bücherliebe.
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|58| Schutzgeister der Literatur
Ein Buch, das leben soll, muss einen Schutzgeist haben.
Martial
Für Francesco Petrarca waren Bücher die besten Freunde, deren Gesellschaft ihm immer erfreulich erschien. Er las sie nicht nur, sondern sprach mit ihren Autoren wie mit alten Bekannten, selbst wenn sie seit Jahrhunderten tot und begraben waren. Manchmal schrieb er seine Kommentare an die Seitenränder, und er vertiefte den fruchtbaren Gedankenaustausch auch in seinen 13 ehrerbietigen Briefen an Autoren der Antike, die seine 24 Bücher umfassende Sammlung humanistischer Texte, »Familiarum rerum«, abschließen. Vergil, Homer, Cicero, Seneca und Augustinus waren für ihn lebendig, in ihren Gedanken fand er sein eigenes Wesen gespiegelt. Sie waren für ihn leuchtende Fixsterne am Himmel, »die uns den Weg aus den ruhelosen Fluten unserer Seele in den Hafen der Weisheit zeigen«. Wenn Petrarca von seinen Bücherfreunden getrennt wurde, hatte dies schreckliche Folgen für seine physische und psychische Konstitution. Philippe de Cabassoles, der Bischof von Cavaillon, hielt den übermäßigen Umgang mit Büchern für die Ursache des oft bedenklichen
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