Das Haus des Buecherdiebs
verweist bereits auf Boccaccios Hauptwerk, die Novellensammlung »Deca merone «. Hier flieht eine Gesellschaft vornehmer Damen und Herren vor der Pest aufs Land und vertreibt sich die Zeit mit dem Erzählen von Geschichten, in denen es mal realistisch, mal märchenhaft, humorvoll, tragisch, lebensnah und gelegentlich auch ziemlich derb zugeht.
Dass wir uns noch heute an diesen munteren Novellen |62| erfreuen können, ist keineswegs selbstverständlich, denn beinahe hätte Boccaccio das Schreiben aufgegeben, seine Manuskripte verbrannt und seine Bibliothek seinem Freund Petrarca geschenkt, um im Büßergewand ins Kloster zu gehen. Ein sterbender Mönch hatte ihm mahnend kundgetan, die Poesie sei ein ebenso gottloser wie sinnloser Zeitvertreib, eine schreckliche Sünde, die direkt ins Fegefeuer führe. Doch Petrarca tröstete ihn: »Ich kenne viele, die ohne literarische Bildung zu Heiligen wurden; ich kenne aber niemanden, der von der Heiligkeit ausgeschlossen wurde, weil er über Bildung verfügte.«
Der Autor des »Decamerone« verzichtete hinfort zwar auf das Verfassen frivoler und amüsanter Erzählungen, widmete sich jedoch weiterhin und mit noch größerem Eifer dem Studium der antiken Literatur und dem Aufspüren verschollener Klassiker. Durch seine Abschriften wurden die Verse des Satirikers Martial und Ovids »Ibis« gerettet, und ohne ihn wären zahlreiche Schriften des römischen Historikers Tacitus heute völlig unbekannt. Einiges rettete er nicht durch eifriges Kopieren, sondern … nun ja, offenbar ließ er zuweilen ein seltenes Exemplar in seiner Tasche verschwinden. Zwar weiß man nichts Genaueres, doch lassen die Aufzeichnungen seines Schülers Benvenuto de Imola darauf schließen, dass er wichtige Werke entwendete. So sind Tacitus’ »Annales« nur über Boccaccio erhalten geblieben, doch seine Kopie ist in der für das Kloster Montecassino typischen Schrift des 11. Jahrhunderts geschrieben. Bedenkt man den jämmerlichen Zustand vieler |63| Klosterbibliotheken im 14. Jahrhundert, erscheint der offenkundige Diebstahl allerdings weniger verwerflich.
Als Boccaccio 1370 die Bibliothek von Montecassino, deren Bestand ihm von einem früheren Aufenthalt her vertraut war, aufsuchte, um erneut nach Raritäten zu forschen, brach er in Tränen aus. Gras wuchs auf den Fensterbänken, Staub sammelte sich in den Regalen, die Bücher waren in einem traurigen Zustand, ungeordnet und vernachlässigt. Die Mönche hatten aus den seltensten und kostbarsten Werken achtlos bündelweise Seiten herausgerissen, um sie Stück für Stück als Amulette an abergläubische Frauen zu verhökern. Angesichts dieser bodenlosen Ignoranz erscheint der Bücherdiebstahl nicht als Verbrechen oder Sünde, sondern als heilige Pflicht. Boccaccios Beispiel lehrt zumindest, dass das Entwenden von Büchern zuweilen ihre einzige Rettung ist.
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|64| Baron Corvo
Mit dem Schreiben ist es wie mit der Prostitution: erst macht man es aus Liebe, dann aus Freundschaft und schließlich für Geld.
Molière
Das Sammeln von Büchern ist kein besonders aufregendes Steckenpferd. Natürlich gibt es, wie wir bereits gesehen haben, einige aufsehenerregende Fälle – Spinner, Diebe, Wahnsinnige, Mörder –, doch im Allgemeinen erzeugt es weder großes Erstaunen noch ein Übermaß an Bewunderung, wenn man sich öffentlich zur Bibliophilie bekennt. Gibt es denn nichts, was man tun kann, um dem etwas biederen Bild des Büchersammlers zu entrinnen, ohne gleich auf das gefährliche Terrain der Besessenheit zu geraten? Kann man der betulichen Spießigkeit eines mit seltenen und kostbaren Werken wohlbestückten Regals nicht etwas entgegensetzen, das zumindest in kultivierten Kreisen noch ein klein wenig Aufsehen erregen könnte? Man kann. Natürlich kann man. Wenn man über die entsprechenden Mittel verfügt und neben Büchern auch Autoren sammelt, ihnen Zuflucht bietet, ihren Lebensunterhalt sichert, um die Entstehung eines bedeutenden literarischen Werks zu ermöglichen.
Es gab tatsächlich einige wichtige Mäzene, ohne deren selbstlose Liebe zur Literatur gewisse Bücher nicht |65| geschrieben worden wären. Die Engländerin Harriet Weaver, die einen der bedeutendsten Autoren des 20. Jahrhunderts viele Jahre lang bedingungslos unterstützte, ist – wie wir später noch sehen werden – hierfür ein liebenswürdiges Vorbild. Doch ist auch das Fördern oder »Sammeln« von Schriftstellern keineswegs ungefährlich. Man sollte genau prüfen, wen
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