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Das Haus des Buecherdiebs

Titel: Das Haus des Buecherdiebs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Pechmann
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Herausgeber wurde freilich Henriettas Bruder Thomas genannt, da sich aus der Bearbeitung der Texte ein kniffliges moralisches Problem ergeben hatte: Henrietta Bowdlers intensive Beschäftigung mit den unflätigen und anstößigen Textpassagen hatte sie zwangsläufig zu einer Expertin auf einem Gebiet gemacht, mit dem sich eine Dame aus Anstandsgründen nicht näher befassen durfte. Sie wusste alles über die blasphemischen und obszönen Ausdrücke der Elisabethaner. Ihr Wissen durfte sie aber nicht preisgeben, da sie schlecht vor den Augen der kritischen Öffentlichkeit einräumen konnte, dass sie sich aus freien Stücken mit derart unschicklichen Themen befasst hatte.
    Das Eigenartige an Bowdlers »Family Shakespeare« war allerdings nicht die Vorstellung, die unsterblichen Kunstwerke durch radikale Zensur »verbessern« zu können, sondern die Tatsache, dass all die Kürzungen den Inhalt der Stücke nicht verharmlosen konnten. Es ging nach wie vor um Mord, Machtgier, Ehebruch, Liebesintrigen, Wahnsinn, und auch die Szene in »Titus Andronicus«, in der zwei kleine Kinder gebraten und als Pastete aufgetischt werden, blieb in der familiengerechten Überarbeitung erhalten. Man fragt sich unwillkürlich, warum die Kürzungen nicht viel konsequenter ausfielen und was von Shakespeares Werk übriggeblieben wäre, wenn alles, was mit Sex und Gewalt zu tun hat, gestrichen worden wäre. – Nichts!
    Und auch dieses »Nichts« ist im elisabethanischen |91| Englisch ein obszöner Begriff, den man zensieren müsste. Denn »Thing« und »Nothing« sind Bezeichnungen für das männliche bzw. weibliche Geschlechtsteil. »Viel Lärm um Nichts« (»Much Ado About Nothing«) könnte man im Deutschen also auch wesentlich unverblümter übersetzen. Selbst der düstere und melancholische »Hamlet« ist nicht frei von solchen Anspielungen, die in der Übertragung von August Wilhelm Schlegel freilich beinahe harmlos klingen:

    HAMLET. Fräulein, soll ich in Eurem Schoße liegen?
    Setzt sich zu Opheliens Füßen.
    OPHELIA. Nein, mein Prinz.
    HAMLET. Ich meine, den Kopf auf Euren Schoß gelehnt.
    OPHELIA. Ja, mein Prinz.
    HAMLET. Denkt Ihr, ich hätte erbauliche Dinge im Sinne?
    OPHELIA. Ich denke nichts.
    HAMLET. Ein schöner Gedanke, zwischen den Beinen eines Mädchens zu liegen.
    OPHELIA. Was ist, mein Prinz?
    HAMLET. Nichts.

    Letztlich handelt es sich bei Henrietta Bowdlers besonderer, wenn auch überaus prüder Beziehung zu William Shakespeare um einen eigenartigen, aber gar nicht so seltenen Ableger der Bibliomanie, den George Bernard Shaw treffend als »bardolatry« bezeichnet hat. Der Begriff, zusammengesetzt aus Barde (bard) und Anbetung (idolatry), meint die abgöttische Verehrung Shakespeares |92| und seiner Werke, die zu Miss Bowdlers Lebzeiten, am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts, einen bizarren Höhepunkt erreichte. Man liebte Shakespeare so sehr, dass man alles, was nicht in das nationale Heiligenbild passte, einfach anderen Autoren und fremden Quellen zuordnete oder säuberlich ausradierte. Die absurde Vorstellung, man könne oder müsse die Werke des sprachgewaltigen Genies nachträglich korrigieren, um sie für kommende Generationen zu bewahren, hat Shakespeare nicht wirklich schaden können und die englische Sprache sogar um ein Wort bereichert. Henriettas Tugendhaftigkeit ließ quasi aus dem Nichts ein neues Verb entstehen: »to bowdlerize« bedeutet im Englischen die Kürzung eines Textes um anstößige Stellen.

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    |93| Die Hölle der Bibliomanen
    Nur Teufel sind ewig.

    Guy de Maupassant
    Es gibt Schlimmeres als Henrietta Bowdlers ebenso mühseliges wie fruchtloses Bestreben, alles aus William Shakespeares Werken zu entfernen, »was in einem frommen und tugendhaften Geist Anstoß erregen muss«. Man denke nur an jene Biblioklasten, die Bücher nicht nur symbolisch verstümmeln oder zensieren, sondern im wahrsten Sinne des Wortes zerstören. Oft handelt es sich bei den Tätern um Personen, denen man eine solche Barbarei nie zugetraut hätte.
    So lehrte Professor Wilhelm Bruno Lindner an der Leipziger Universität Eigentumsrecht und Moral, frönte jedoch insgeheim dem unerklärlichen Laster der Buchverstümmelung. Mit Messer, Klebstoff und Radiergummi bewaffnet, machte er sich über die wertvollsten Bände der Universitätsbibliothek her und schnitt nach Belieben Pergamentblätter heraus, beschädigte Buchdeckel und entfernte unter anderem den ersten Buchstaben aus dem Johannes-Evangelium einer

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