Das Haus des Buecherdiebs
Stevenson schrieb Arthur Conan Doyle, dessen »Abenteuer von Sherlock Holmes« hätten seine Zahnschmerzen gelindert. Das Buch habe sich auch bei Rippenfellentzündung als nützlich erwiesen.
Asthma:
Der englische Dichter Richard le Gallienne hielt die Werke von Victor Hugo und Tolstois »Krieg und Frieden« für ausgezeichnete Arzneien bei Lungenerkrankungen.
Grippe:
Edward Bulwer-Lyttons Viruserkrankung wurde angeblich durch die Lektüre der Autobiographie einer vielleicht zu Unrecht vergessenen »Mrs. Piozzi« geheilt.
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Kopfschmerz:
Arnold Bennet bekannte einmal, dass ihm die Komödien, Parodien und Vaudeville-Stücke des Pariser Bühnenautors Eugène Labiche bei diesem unerquicklichen Leiden Linderung verschafft hätten.
Liebeskummer:
Eine altbewährte und vielfach erprobte Empfehlung ist Ovids »Remedia amoris – Heilmittel gegen die Liebe«. Alles andere ist noch wirkungsloser.
Bücher können freilich auch in vielen heiklen Lebenslagen praktische Hilfe leisten. Wie man sich auf einsamen Inseln durchschlägt, erfährt man bei Daniel Defoe und Jules Verne, wie man mit Vampiren umspringt, lehrt uns Bram Stoker, wie man seinen Chef um eine Gehaltserhöhung bittet, erzählt Georges Perec, wie man ein Kondom benutzt, schildert detailgetreu John Irving. Da soll noch einer behaupten, Literaten und ihre treuen Leser seien weltfremd! Aber vielleicht sollte man doch sicherheitshalber jedem Buch einen Zettel beilegen, der die Leser vor unerwünschten Nebenwirkungen warnt.
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|88| Henrietta Bowdlers Gespür für Anstand
Es giebt nur eine Unanständigkeit des Nackten – das Nackte unanständig zu finden!
Peter Altenberg
Henrietta Bowdler erinnerte sich oft an die glücklichen Stunden ihrer Kindheit, als ihr Vater seine alte zerfledderte Shakespeare-Ausgabe aus dem Regal zog, um im Kreis der Familie Szenen aus »Othello«, »Hamlet« und »König Lear« vorzutragen. Thomas Bowdler war ein ausgezeichneter Vorleser und ein vorzüglicher Kenner der klassischen Tragödien und Komödien, aber er war auch feinsinnig genug, um seinen Söhnen und Töchtern all jene Derbheiten zu ersparen, die im elisabethanischen England keineswegs ungewöhnlich gewesen waren, sich aber für die zarten Gemüter der Heranwachsenden nicht eigneten.
Als Henrietta alt genug war, Shakespeares Stücke unzensiert zu genießen, stellte sich eine gewisse Beklommenheit ein. Die junge Dame war keineswegs über die Verheimlichung der reizvollsten Textstellen durch den Vater enttäuscht, sondern eher unzufrieden darüber, dass der unvergleichliche Dramatiker sich in solche Niederungen des zotigen Humors, der primitiven Kraftausdrücke, Blasphemien und erotischen Anzüglichkeiten begeben hatte. Das war doch nicht
ihr
Shakespeare! |89| Gewiss, sie liebte seine Geschichten und bewunderte seine Dichtkunst über alles, doch sie konnte die ungeheuerliche Lasterhaftigkeit nicht dulden. Die Meisterwerke mussten von ihren unschicklichen Szenen und unanständigen Begriffen befreit werden. Shakespeare sollte ein neues, reines Antlitz bekommen.
Die tugendhafte Miss Bowdler hatte bereits einige Erfahrung als Autorin gesammelt, als sie sich ans Werk machte, den großen William Shakespeare zu verbessern. Sie hatte seit 1787 mit ihrem Bruder Thomas mehrere Bände mit Essays und Gedichten veröffentlicht und ein erfolgreiches Buch mit dem vielversprechenden Titel »Predigten über die Grundsätze und Pflichten der Christenheit« verfasst. Ihr »Familien-Shakespeare« in vier Bänden erschien 1807, doch wurde all die Mühe nicht belohnt. Eine Shakespeare-Ausgabe, die alles tilgte, was der »Sittlichkeit die Wangen röten« könnte, fand selbst bei den sittenstrengen Zeitgenossen keinen Anklang – vielleicht auch deshalb, weil im selben Jahr Charles und Mary Lamb ihre kurzweiligen und bald populären Nacherzählungen der Shakespeare-Dramen und Komödien herausbrachten. Es dauerte noch einige Jahre, bis sich Henriettas Bowdlers Vorstellung durchsetzte. 1815 erschien eine überarbeitete Ausgabe, die, nach dem Bekunden des Herausgebers, dem Originaltext nichts hinzufügte, sondern nur jene Worte und Begriffe strich, die nicht mit Anstand vor der Familie laut gelesen werden könnten. So wurde aus einer Liebesnacht in »Ro meo und Julia« eine gesellige Nacht, und Ophelias Selbstmord in »Hamlet« wurde zu einem bedauerlichen |90| Missgeschick. Die züchtige und jugendfreie Shakespeare-Version verkaufte sich gut und erlebte etliche Neuauflagen. Als
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