Das Haus des Daedalus
dem kalten Wasser auf sie warten sollen? Dennoch war ihr ganz schlecht bei dem Gedanken, tiefer in die überfluteten Zimmer vorzudringen. Das Plätschern des Wassers aus den zerschlagenen Rohren übertönte alle anderen Laute; sie würde also nicht einmal hören können, falls sich ihr jemand von hinten näherte.
Zwei, drei Meter weit watete sie ins Wasser. Es reichte ihr bis zum Bauchnabel. Sie hatte eine Gänsehaut, aber ihre Anspannung nahm der Kälte ein wenig von ihrem Biß. In dem schwachen Licht war alles unsichtbar, das sich tiefer als eine Handbreit unter der Oberfläche befand. Sie hätte sich ebensogut durch schwarzes Öl kämpfen können, es hätte kaum einen Unterschied gemacht. Ganz kurz spielte sie mit dem Gedanken zu schwimmen, um schneller voranzukommen, aber aus irgendeinem Grund beunruhigte sie die Vorstellung, den Kontakt zum Boden aufzugeben … vielleicht, weil der Gedanke, durch ihren Keller zu kraulen, einfach zu abwegig, zu bizarr war.
Langsam kämpfte sie sich den Flur entlang. Der Widerstand des Wassers war größer, als sie erwartet hatte, ihre Schritte kamen ihr vor wie Bewegungen in einer Zeitlupenaufnahme.
Plötzlich stieß sie mit dem Knie gegen die Kante einer alten Truhe. Der Schmerz flammte an ihrem Bein empor, und sie verlor das Gleichgewicht. Instinktiv versuchte sie, sich abzustützen; dabei ließ sie die Lampe fallen. Sie spürte, wie sie an ihrem Bein hinabglitt, auf ihrem Fuß aufkam, von dort abrollte und einen Augenblick später verschwunden war. Ärgerlich blickte sie an sich hinab und sah den Schein der Lampe fahl unter der Oberfläche leuchten. Das Modell war wasserdicht, doch das änderte nichts daran, daß sie jetzt über einen Meter tief unter Wasser lag. Coralina würde hinabtauchen müssen, um sie aufzuheben.
Mit einem leisen Fluch blickte sie hinüber zur Tür des Arbeitszimmers. Dahinter war es so dunkel, daß sie kaum Hoffnung hatte, die CD-Rom zu finden; erst recht nicht, falls sie in eine andere Ecke des weitläufigen Raumes gespült worden war.
Nein, sie hatte keine Wahl. Sie war auf die verflixte Lampe angewiesen.
Noch einmal schaute sie sich im Dunkeln um, dann holte sie tief Luft und tauchte unter. Im Wasser öffnete sie die Augen, in der Hoffnung, etwas erkennen zu können, doch die wabernden Schemen aus Schwärze um sie herum verstärkten nur ihre Unruhe. Sie ging in die Hocke und tastete nach der Quelle des Lichtscheins. Das Plätschern an der Oberfläche klang hier unten dumpf und sehr weit entfernt. Sie kannte jeden Quadratzentimeter dieses Flurs, des ganzen Kellers, und doch war er ihr nun vollkommen fremd, als hätte sich die Realität verschoben und einen bekannten Ort in etwas Fremdes, Bedrohliches verwandelt.
Die Finger ihrer rechten Hand umfaßten die Taschenlampe. Kraftvoll stieß sie sich ab und brach mit Kopf und Brust durch die Oberfläche. Sie war nicht lange unter Wasser gewesen, war nicht einmal wirklich außer Atem, und doch hatten ihr die wenigen Sekunden dort unten mehr Furcht eingejagt als der Anblick des überschwemmten Kellers oder die Dunkelheit der Räume. Ganz kurz hatte sie das Gefühl gehabt, sehr viel tiefer hinabgetaucht zu sein, und erneut kehrte die Erinnerung an den Sturz der beiden Männer in das Reservoir zurück; die Erinnerung an Janus, der im bodenlosen Abgrund des Beckens versank; an Jupiter, der ihm gefolgt war, um ihn zu retten.
Sie zitterte jetzt, nicht nur vor Kälte. Mühsam kämpfte sie einen erneuten Anflug von Panik nieder und setzte ihren Weg zum Wohn-und Arbeitszimmer fort. Auch hier riß der kleine Lichtkegel treibendes Papier aus der Finsternis, gleich daneben die Blätter einer Pflanze, die wie Seerosen auf der Oberfläche schwammen. Das herabplätschernde Wasser aus den Rohren erzeugte wirbelnde Strömungen, die von allen Seiten zugleich zu kommen schienen. Dadurch bewegten sich die heil gebliebenen Rißzeichnungen an den Wänden in einem sanften Schwanken, wie das zähe Flattern weißer Papiervorhänge. Das Fenster war nach wie vor gekippt, der Schreibtisch unter der Wasseroberfläche unsichtbar. Treibgut verriet die Stelle, an der er stand.
Coralinas Computertower stand auf dem Tisch, sein oberer Teil ragte aus dem Wasser wie der Tempelturm einer versunkenen Stadt. Vom Monitor war nur noch ein schmaler Rand zu sehen.
Coralina watete tiefer in den Raum, als plötzlich …
Ein Geräusch, hinter ihr! Sie drehte sich um. Nichts! Nur das Rauschen des herabprasselnden Wassers, durchmischt mit
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