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Das Haus des Daedalus

Titel: Das Haus des Daedalus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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umzuziehen, aber dann bemerkte sie, daß die Situation für ihn weit befremdlicher und unangenehmer war als für sie. Immerhin war er ein Mönch, und er schaute rasch und mit einer gewissen Bestürzung zu Boden, als sie ihre nasse Jeans abstreifte und ihre nackten Beine zum Vorschein kamen. Vermutlich hatte er seit Jahrzehnten keine Frau mehr ohne Kleidung gesehen.
    Als ahnte er, was sie dachte, sagte er leise: »Ich habe immer nur Männer gepflegt, niemals Frauen, wissen Sie?«
    Sie schlüpfte in die trockene Hose und zog den Reißverschluß zu.
    »In welchem Kloster leben Sie?«
    »In … gar keinem mehr. Ich habe den Orden verlassen.«
    »Und vorher? Im Kapuzinerkloster an der Via Veneto?«
    Santino nickte.
    »Ich kenne die Kirche«, sagte sie. »Santa Maria della Concezione. Als Kind hab ich dort mal die Knochengruft besichtigt.«
    Der Mönch knöpfte sein fleckiges Hemd auf, zog es aus und faltete es sorgsam zusammen. Sein nackter Oberkörper wirkte dürr und ausgehungert. Die Haut war sehr hell, so als sei sie noch nie einem Sonnenstrahl ausgesetzt worden. »Die Gruft ist in den letzten Jahren zur Touristenattraktion verkommen.«
    Coralina wandte ihm den Rücken zu, als sie ihr nasses Oberteil auszog, sich abtrocknete und das Kapuzenshirt überzog. Als sie sich umdrehte, war auch er wieder vollständig bekleidet.
    Sie wollte so schnell wie möglich nachschauen, was Fabios Filterung des Fotos ergeben hatte … sie wollte dazu eines der Internet-Cafes in der Innenstadt aufsuchen -, und sie machte keinen Hehl aus ihrer Ungeduld, als sie sich zur Treppe wandte.
    »Wissen Sie es?« fragte Santino unvermittelt.
    »Was soll ich wissen?«
    »Die Wahrheit über den Stier. Über Cristoforo. Über die endlose Treppe.«
    Sie ließ sich auf einer Sessellehne nieder und fixierte ihn. »Diese Sache mit dem Stier …«
    »Ich weiß schon«, unterbrach Santino sie. »Sie glauben, ich bin verrückt. Aber es gibt Dinge, die habe ich mir nicht eingebildet. Ich habe die Aufzeichnungen der anderen gesehen. Die Videos, die Remeo gemacht hat. Die Bilder von der Treppe. Das war keine Einbildung!«
    Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, wovon er sprach. »Hören Sie, ich weiß nicht, was das mit Jupiter zu tun hat oder mit den Adepten. Nicht mal mit Cristoforo.«
    »Cristoforo kannte den Schlüssel«, sagte Santino. »Ich habe ihn jahrelang gepflegt, und er hat ihn für mich aufgezeichnet. Aus dem Kopf, mitten in diesem Bild. Er hat dabei immer wieder einen Satz gesagt …«
    »Es ist immer Nacht im Haus des Daedalus«, sagte Coralina leise.
    Santino legte überrascht den Kopf schräg. »Das waren seine Worte. Er sagte, er habe den Schlüssel hier oben, in seinem Kopf. Und dann hat er ihn aufgezeichnet. Ich habe nichts darauf gegeben, verstehen Sie, lange Zeit nicht. Aber dann, irgendwann, als ich mit Bruder Remeo darüber gesprochen habe und sich bestimmte … bestimmte Dinge zusammengefügten … gewisse Hinweise … da habe ich den Schlüssel anfertigen lassen. Cristoforo hat mir vertraut. Ich habe ihm den Schlüssel gezeigt, und da wurde er wütend. Er schrie und schlug um sich, redete wirres Zeug. Und dann verschwand er einfach. Wir konnten ihn nicht zurückhalten.«
    Unten in der Gasse schlug eine Wagentür. Dann eine zweite.
    Coralina stand auf. »Haben Sie das gehört?« Sie wartete nicht auf seine Antwort, sondern rannte in einen der vorderen Räume und warf durchs Fenster einen Blick auf die Gasse. Sie sah ein schwarzes Wagendach. Das Dach einer Limousine.
    Ein schrilles Knirschen drang aus dem Erdgeschoß herauf.
    »Das ist das Glas unter der Ladentür«, entfuhr es ihr.
    »Sie kommen«, wisperte Santino, aber er klang sehr ruhig, fast gleichgültig. »Sie werden uns töten.« Eine simple Feststellung in einem Tonfall, als spräche er von einem bevorstehenden Regenschauer.
    Sie lief zur Treppe, überlegte angestrengt. Dann drängte sie Santino ins Wohnzimmer. »Durch die Glastür, schnell! Von der Terrasse aus können Sie aufs Dach. Los, machen Sie schon!«
    »Was ist mit Ihnen?«
    Sie horchte nach unten, hörte Glassplitter, die unter Schuhsohlen knirschten. »Ich muß noch was erledigen. Laufen Sie vor!«
    Sie wartete nicht, um zu sehen, ob er ihrer Anweisung folgte. Eilig, aber so leise sie konnte, schlich sie die Treppe hinunter.
    »Sie gehen denen ja entgegen!« flüsterte Santino verstört hinter ihrem Rücken.
    »Verschwinden Sie schon!« gab sie scharf zurück.
    Sie hörte, wie er sich ins Wohnzimmer zurückzog, dann

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