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Das Haus des Daedalus

Titel: Das Haus des Daedalus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Anblick, der den Betrachter erschlug. Jupiter ging staunend an den Wänden entlang und konnte den Blick nicht von all diesen Entwürfen und Skizzen und Detailplänen nehmen. Der Professor folgte ihm, indem er seitlich einen Fuß neben den anderen setzte und sich wie ein Ertrinkender an die Haltestange klammerte. Die Knie des alten Mannes zitterten merklich. Die Knöchel seiner Hände traten weiß hervor, so kräftig mußte er zupacken, um sich festzuhalten. Aber Trojan war zu stolz auf seine Vision eines neuen, verbesserten Vatikans, als daß er Jupiters Beifall im Rollstuhl entgegengenommen hätte. In Gedanken stand er schon vor dem neuen Gesicht des Katholizismus, gefeiert, umschwärmt … das Zentrum eines tobenden Jubelsturms.
    »Das ist phantastisch«, sagte Jupiter tonlos. Er meinte es ernst, ungeachtet der Ablehnung, die er für Trojan und die Adepten empfand. Diese Entwürfe waren mit nichts zu vergleichen, das in den letzten Jahrzehnten errichtet worden war. Trojan war ein Genie, und für einen kurzen Moment glaubte Jupiter zu verstehen, was in dem Professor vorging, nach all den Jahren der Hoffnung, einst selbst in einer Reihe mit Michelangelo und Bernini und Domenico Fontana zu stehen, selbst einer der Baumeister des Vatikans zu sein, von der Historie auf den Olymp der Kunst erhoben.
    Jupiter erreichte das Ende der Wand, löste sich fast ein wenig widerwillig vom Anblick der Zeichnungen und drehte sich zu Trojan um.
    Der alte Mann war stehengeblieben, einige Meter hinter ihm. Er hatte wieder den Kopf in den Nacken gelegt und preßte ein Taschentuch unter seine Nase. Jupiter sah, daß das Blut durch die weiße Seide drang, und nun bemerkte er auch auf manchen der Zeichnungen kleine braune Punkte … Blut, das Trojan über seiner Arbeit vergossen hatte. Seine Gesundheit wurde der Kunst untergeordnet, dem Erschaffen einer neuen Welt. Der Professor war ein wahrer Demiurg, und das unterschied ihn so gänzlich von all den selbsternannten Kunstsachverständigen, mit denen Jupiter bisher zu tun gehabt hatte. Selbst die Künstler, die er getroffen hatte, waren letztlich nur Konsumenten gewesen, die Altes vereinnahmten und reproduzierten, mal talentiert, mal hoffnungslos. Aber es war keiner darunter gewesen, dessen Imagination auch nur im Ansatz ausgereicht hätte, etwas zu schaffen wie das, was an diesen Wänden hing.
    »Sie hoffen immer noch, all das eines Tages zu verwirklichen?« fragte Jupiter.
    Trojan senkte das Taschentuch, aber immer noch quoll Blut aus seiner Nase. »Ich werde es verwirklichen«, sagte er bestimmt und brachte das Tuch wieder an seinen Platz.
    »Sie arbeiten mit den Adepten, um sie auf Ihre Seite zu bringen. Sie sorgen dafür, daß das Haus des Daedalus ein Geheimnis bleibt, und im Gegenzug hoffen Sie darauf, daß man Ihre Pläne genehmigt!«
    Trojan gab keine Antwort, aber er lächelte verhalten unter dem blutgetränkten Seidentuch. Mit einer Hand am Haltegriff machte er sich auf den Rückweg zum Rollstuhl, quälend langsam.
    Jupiter beobachtete ihn. Er machte keine Anstalten, dem Alten zu helfen. Er war hin und her gerissen zwischen Abscheu und Bewunderung. Ein Genie im Körper eines Krüppels.
    »Was befindet sich wirklich hinter dem Daedalusportal?« fragte Jupiter. »Sie wissen es doch, oder?«
    »Woher sollte ich?« keuchte Trojan und schob sich weiter an der Wand entlang.
    »Sie sind seit so vielen Jahren im Vatikan. Erzählen Sie mir nicht, Sie hätten nicht die Archive nach Hinweisen durchsucht. Oder hat Cristoforo das für Sie erledigt? Hat er deshalb den Verstand verloren?«
    Der Professor setzte weiterhin mühsam einen Fuß neben den anderen, mit dem Gesicht zur Wand, das zerknüllte, blutige Tuch in der Rechten. »Cristoforo«, flüsterte er kopfschüttelnd. »Dieser Narr.«
    »Was hat er entdeckt?«
    »Den Schlüssel. Aber das wissen Sie. Den einzigen Druck der siebzehnten Platte. Und … zumindest hat er das behauptet … geheime Aufzeichnungen Piranesis über das, was uns wirklich erwartet, wenn wir das Haus des Daedalus öffnen. Er hat sie vernichtet, bevor irgendein anderer sie lesen konnte. Aber er konnte den Mund nicht halten.«
    »Hat Cristoforo deshalb den Schlüssel aus dem Druck entfernt? Damit niemand auf die Idee käme, ihn zu benutzen?«
    Der Professor war noch drei Meter von seinem Rollstuhl entfernt. Mit jedem Schritt fiel es ihm schwerer, sich zu bewegen. »Muß ich Ihnen darauf wirklich eine Antwort geben?«
    Jupiter trat neben den Rollstuhl und legte eine Hand

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