Das Haus des Daedalus
getan als das … er hat ihr Leben geschenkt. Sein eigenes Leben.«
Jupiter schaute den Professor irritiert an. »Bis zu einem gewissen Punkt kann ich Ihnen folgen, Trojan, aber …«
Der alte Mann winkte ab. »Die Geschichte endet nicht mit der Fertigstellung. Hören Sie weiter zu! Die Menschen des alten Latium hatten den Bau als Tribut an ihre Götter gedacht, als Verneigung vor ihrer Allmacht. Aber auch sie begriffen bald, daß Daedalus weit mehr als ein weiteres Labyrinth erschaffen hatte. Es war größer als alles bislang Dagewesene, zu gewaltig für ihre Vorstellungskraft. Die Latinerfürsten begannen Daedalus zu fürchten, seine Macht über den Stein und über das, was wir heute Schwerkraft nennen. Ihre Angst wuchs mit jedem Stein, der das Bauwerk seiner Vollendung näherbrachte, und als es endlich fertig war, beschlossen sie, Daedalus zu beseitigen. Gemeinsam mit ihm sollte auch sein unheiliges Labyrinth in Vergessenheit geraten. Sie sperrten ihn in seinem eigenen Werk ein, verschlossen die Tore und begruben die Anlage in der Erde. Sie häuften Hügel darüber auf, und viel später errichteten sie eine Stadt, die das, was darunter lag, vergessen machen sollte. Daedalus wurde zum Gefangenen seiner selbst, denn jeder Bau ist immer auch ein Teil seines Erbauers, und niemand hat ihn jemals wieder gesehen oder von ihm gehört.«
»Bis Piranesi den Kerker öffnete und … ja, und was eigentlich?«
»Bis er den Geist des Daedalus befreite. Oder seine Magie. Oder einfach das, was nach all den Jahrtausenden davon übriggeblieben ist. Möglich, daß der Baumeister während seiner Gefangenschaft den Verstand verloren hat. Fest steht, irgend etwas ist noch dort unten, ein Stück von ihm und seiner Macht. Und Piranesi war der erste, der einen Teil davon in die Freiheit entkommen ließ.«
»Aber das, was ich … was wir gesehen haben … die veränderten Gassen, das, was Sie Labyrinthisierung nennen, und dieser Stier … Warum geschieht all das gerade jetzt wieder? Heißt das nicht, daß …«
»Daß irgendwer erneut das Haus des Daedalus geöffnet hat«, beendete Trojan den Satz mit einem Nicken. »Ganz richtig. Irgendwer hat eine Tür geöffnet, und da es nicht das Hauptportal ist, muß es der Nebeneingang sein, jene Tür, die Piranesi damals benutzt hat.« Der Professor legte die Stirn in Falten. »Und das Schlimme ist, daß ich nicht die geringste Ahnung habe, wer es getan haben könnte.«
»Hat noch jemand außer den Adepten den Code der Schale entschlüsselt?«
»Nein, ausgeschlossen. Niemand hatte Gelegenheit, dem kompletten Text zu lesen. Die Schale und das fehlende Bruchstück waren bis heute nacht voneinander getrennt.«
»Also muß jemand durch Zufall auf die Tür gestoßen sein.«
»Das ist auch meine Befürchtung. Und er muß den Schlüssel gehabt haben.«
»Aber die Kupferplatte …«
»Ich weiß. Die hatten die ganze Zeit Sie. Bis gestern abend. Verstehen Sie nun, weshalb ich so dringend wissen muß, wo sie sich jetzt befindet?«
Ganz kurz war Jupiter versucht, ihm die Wahrheit zu sagen. Über die Nonnen, und über den Gärtner Cassinelli. Alles schien einen Sinn zu ergeben. Sie hatten die Platte und damit den Schlüssel. Also mußten sie es gewesen sein, die das Tor geöffnet und die Labyrinthisierung in Gang gesetzt hatten.
Aber Janus hatte gesagt, er und seine Verbündeten wüßten nicht, wo sich der zweite Eingang zum Haus des Daedalus befand.
Und da kam Jupiter ein weiterer Name in den Sinn. Von jemandem, den er fast schon vergessen hatte.
Santino.
Der Mönch hatte Cristoforo gekannt. Möglich, daß er durch den Maler an den Schlüssel gekommen war. Möglich auch, daß er … auf welche Weise auch immer -das geheime zweite Tor entdeckt und geöffnet hatte.
»Nein«, sagte Jupiter ruhig und versuchte, nicht daran zu denken, was geschehen würde, wenn er sich in den nächsten zwanzig Minuten kein Antihistaminikum spritzte. »Ich werde Ihnen niemanden ans Messer liefern.«
Der Professor starrte ihn ausdruckslos an, sehr lange, sehr durchdringend. Dann legte er langsam die Hand auf einen Klingelknopf an seinem Schreibtisch.
»Gut«, sagte er und klang plötzlich sehr müde. »Wie Sie wünschen. Ich denke, ich kann Ihnen die nötige Zeit verschaffen, um Ihre Entscheidung zu überdenken.«
Der Lastenaufzug kreischte.
Coralina hörte abrupt auf, vor der Tiefgarage auf und ab zu gehen. Statt dessen trat sie nervös von einem Fuß auf den anderen und kaute geistesabwesend auf ihrem rechten
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