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Das Haus des Daedalus

Titel: Das Haus des Daedalus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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erst ein einziges Mal bei ihr gesehen hatte, damals, in der Nacht des einzigen großen Streits, den sie je miteinander gehabt hatten … in jener letzten Nacht, bevor sie spurlos verschwunden war. Dies war die wahre Miwa. In einem Anflug irrealer Klarheit sah er, daß ihre Augen die gleiche Farbe hatten wie die Mündung ihrer Waffe.
    Sie drehte sich wieder um, sprang in den Türrahmen und richtete die Pistole beidhändig ins Dunkel des Treppenhauses. »Wer ist da?«
    Mit allem mochte sie gerechnet haben … aber nicht damit, daß Jupiter sich von hinten auf sie stürzte.
    Sie stieß ein hohes Kreischen aus, als er sie zur Seite riß, gemeinsam mit ihr gegen die Wand prallte und dann auf den Boden krachte. Er war zu schwach, um gezielt und überlegt zu handeln. Er spekulierte darauf, ihr körperlich überlegen zu sein … doch nach dem, was er in den vergangenen Stunden durchgemacht hatte, stellte sich das als Trugschluß heraus. Miwa holte aus und schlug ihm ins Gesicht, ausgerechnet mit jener Hand, in der sie noch immer die Waffe hielt. Er spürte, wie der kurze Lauf gegen seine Stirn hieb und etwas Scharfes, Spitzes -vielleicht der Sicherungshebel … seine Haut aufriß. Blut spritzte in seine Augen, doch er dachte nicht daran, aufzugeben; neuerdings hatte er Erfahrung darin, Schmerzen wegzustecken. Mit aller Kraft rammte er seine Faust nach oben, streifte Miwas Wangenknochen und traf ihr Ohr. Der Schlag war nicht zielsicher, aber effektiv, denn sie wurde zur Seite geschleudert und prallte abermals mit der Schulter gegen die Wand. Jupiter wollte den Augenblick nutzen und sich aufrichten; dabei spürte er, wie ihn sein Gleichgewichtssinn im Stich ließ. Noch im Liegen winkelte Miwa ihr linkes Bein an, trat es mit aller Kraft durch und schmetterte ihren Fuß gegen sein Schienbein. Er schrie auf, knickte endgültig ein und fiel auf die Seite.
    Ein Schuß peitschte.
    Jupiter war überzeugt, daß Miwa auf ihn geschossen hatte. Auf diese Distanz konnte sie ihn schwerlich verfehlen. Er spürte keinen Schmerz, aber das mußte nichts bedeuten.
    Dann hörte er einen zweiten Schuß und sah durch das Blut in seinen Augen, daß ein menschlicher Umriß in der Tür erschienen war, sich abrupt an die Schulter faßte und zurücktaumelte.
    Miwa lag noch immer am Boden. Die Waffe hatte sie in Richtung der Tür gerichtet. Als sie sah, daß Jupiter sich auf sie zu bewegte, schwenkte sie die Pistole herum.
    »Nicht«, sagte sie leise. »Zwing mich nicht dazu.«
    Ihm blieb gar keine Gelegenheit, sie zu irgend etwas zu zwingen, denn im selben Moment raste eine gewaltige Gestalt herein, stürzte sich mit einem dröhnenden Brüllen auf sie und begrub sie unter sich.
    Cassinelli!
    Jupiter konnte das Gesicht des Gärtners nicht sehen, aber er erkannte den Mann an seiner bärenhaften Statur und an seiner Kleidung, einer weiten Latzhose aus dunklem Stoff und einem grobkarierten Hemd.
    Miwa schrie und strampelte unter der Masse des schwergewichtigen Hünen, und dann sah Jupiter wie in Zeitlupe, daß sie die Hand mit der Waffe freibekam, die Mündung seitlich auf Cassinellis Rippen setzte … und abdrückte.
    Der Schuß klang dumpf, wie durch einen Schalldämpfer.
    Cassinelli stieß einen gurgelnden Laut aus.
    Miwa feuerte erneut.
    Jupiter stieß sich ab, ungeachtet der mangelnden Kontrolle über seinen Körper, taumelte auf die beiden zu, bekam Miwas Hand mit der Waffe zu fassen und riß sie von Cassinelli fort. Dabei löste sich eine weitere Kugel, pfiff eine Handbreit an Jupiters Schläfe vorüber und schlug über ihm in die Decke. Weißer Verputz rieselte auf die Kämpfenden herab.
    Miwa schrie wie eine Besessene, aber Jupiter ließ ihre Hand nicht los. Er wollte ihr die Waffe entreißen, brauchte aber beide Hände, um ihren Unterarm zu halten.
    Sie sah ihn an, durch ihr Zappeln und Kreischen und ihr wirbelndes Haar hindurch. »Was, zum Teufel, tust du?« brüllte sie.
    Er ließ sich nicht beirren, umklammerte ihre Hand mit der Waffe nur noch fester. Miwa lag noch immer unter Cassinelli begraben. Der Gärtner zuckte unkontrolliert. Mindestens drei Kugeln steckten in seinem Körper.
    »Gib mir die Pistole!« verlangte Jupiter gehetzt.
    Miwa schüttelte den Kopf, doch noch im selben Augenblick verdrehte Jupiter ihren Arm so, daß sich ihre Finger öffneten und die Waffe mit einem hohlen Laut auf den Dielenboden fiel.
    »Nein!« schrie sie, als Jupiter ihre Hand losließ, der Pistole einen Tritt gab und selbst zwei Schritte nach hinten

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