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Das Haus des Daedalus

Titel: Das Haus des Daedalus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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der letzte Augenblick war, in dem er das Haus verlassen und sich aus der ganzen Geschichte heraushalten konnte. Aber er blieb, und er ahnte, daß er damit einen Schritt machte, der größer und weiter war, als ihm später einmal lieb sein würde.
    Vorgezogene Reue … er fragte sich, ob es dafür einen psychologischen Terminus gab.
    »Komm mit.« Coralina ging voraus.
    Jupiter folgte ihr, ohne Fragen zu stellen. Er war geduldig genug, um das ganze Ausmaß der Katastrophe abzuwarten; er brauchte keine Vorwarnung, keine rätselhaften Orakel sprüche. Zeigt es mir, dachte er benommen, mich schockiert so leicht nichts mehr. Hinter sich hörte er die schlurfenden Schritte der Shuvani.
    Durch das winzige Wohnzimmer … Bücher, Bücher überall … gelangten sie ins Treppenhaus, vorbei an der offenen Küchentür und dem nach Knoblauch und Paprika duftenden Chaos dahinter. Die hölzernen Stufen waren gerade breit genug, um einem Erwachsenen Platz zu bieten, und so steil, daß es ratsam war zu warten, bis der Vordermann das tiefergelegene Stockwerk erreicht hatte; ansonsten riskierte man, auf den glatten Kanten abzurutschen und dem anderen ins Kreuz zu stolpern.
    Sie betraten den ersten Stock, das Obergeschoß des Ladens. Hier, inmitten hoher Papierstapel und vollgepackter Mappen, zog Coralina eine schwere Eichentruhe beiseite. Darunter kam etwas zum Vorschein, das Jupiter auf Anhieb erkannte. Er stieß scharf die Luft aus, obwohl der Anblick ihn tatsächlich kaum mehr überraschte.
    Unter der Truhe lag ein flaches Rechteck, eingeschlagen in gegerbtes Kalbsleder. Einundvierzig mal vierundfünfzig Zentimeter … Jupiter mußte das nicht nachmessen.
    Er setzte sich auf einen schweren Holzstuhl und legte die Hände auf die Armlehnen in Form gekrümmter Löwenpranken. »Ich hätte nicht kommen sollen«, sagte er. »Ich hätte nicht mal den Telefonhörer abnehmen sollen, als Rufnummer unbekannt im Display stand.«
    Die Shuvani baute sich zwischen ihm und Coralina auf und stemmte ihre riesigen Hände in die Hüften. »Was für ein Waschlappen ist aus dir geworden, um Himmels willen?« Sie klang jetzt wirklich erbost, und zum ersten Mal hatte er das Gefühl, daß sie bereute, ihn hergebeten zu haben.
    »Verdammt, es gibt sechzehn Carceri-Motive! Jeder weiß das!«
    Sein Tonfall war energischer als beabsichtigt, aber er konnte sich jetzt nicht mehr zurückhalten. »Was glaubt ihr wohl, was passieren wird, wenn Coralinas Freunde vom Vatikan in der Geheimkammer nur fünfzehn finden? Kein Mensch wird annehmen, die sechzehnte sei einfach weggerostet!« Er verfluchte sich selbst, weil er die Platten in der Kirche nicht nachgezählt hatte. Coralina mußte eine davon schon in der vergangenen Nacht hierhergeschafft haben. Herrgott, vielleicht hatte Miwa recht gehabt, als sie ihm vorgeworfen hatte, er sei nicht Profi genug für diesen Job.
    Coralina und die Shuvani wechselten einen Blick, und Jupiter hatte das unangenehme Gefühl, daß ihn die beiden aus irgendeinem Grund nicht ernst nahmen. Vielleicht hatte er diese Wirkung auf Frauen. Großartig.
    »Es sind noch immer sechzehn Platten in der Kirche«, erklärte Coralina. »Niemand wird eine vermissen.« Sie lächelte. »Versprochen.«
    »Was hast du gemacht? Ihnen einen Gipsabdruck untergejubelt?«
    »Dein Zynismus ist zwar herzerfrischend, aber nicht ganz angebracht«, gab sie zurück. »Es ist ganz einfach. Sechzehn Platten sind in der Kirche. Eine ist hier. Und was bedeutet das?«
    Jupiter starrte sie aus großen Augen an. »Ihr seid verrückt.«
    »Es waren siebzehn«, sagte die Shuvani in einem Ton, als versuche sie einem Kind eine mathematische Formel einzutrichtern. »Siebzehn, Jupiter.«
    Coralina ging in die Hocke und schlug das Leder auseinander. Die Kupferplatte glänzte rötlich, gesprenkelt mit hellem Grün. Coralina hob das eine Ende an und stellte sie schräg, damit Jupiter einen Blick darauf werfen konnte.
    Er kam sich plötzlich lächerlich vor auf diesem Stuhl, seltsam hilflos, während die beiden ihn erwartungsvoll anstarrten. Hastig sprang er auf und ging vor der Kupferplatte in die Knie.
    »Und?« fragte die Shuvani über seiner Schulter. Zum ersten Mal fiel ihm auf, daß sie nach exotischen Gewürzen roch.
    Er beugte sich tiefer über die Platte, streckte dann eine Fingerspitze aus und fuhr über die eingeritzten Linien, in denen noch immer die getrocknete Farbe des 18. Jahrhunderts klebte.
    Die beiden hatten recht. Es war ein unbekanntes Motiv. Ein unbekanntes,

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