Das Haus des Daedalus
Art verwirrte und reizte ihn. Sie erwartete, daß er sich um sie sorgte; zugleich aber wollte sie nicht, daß er seine Sorge offen zugab oder gar Einfluß auf sie nahm.
Er mußte lächeln und blickte rasch in eine andere Richtung. Die Dächer Roms schimmerten gediegen vor dem schwarzen Nachthimmel. Mondlicht goß sie in stählernes Zwielicht, ein silbriges Auf und Ab aus Schrägen und Kaminen, aus weiten Terrassen mit Kletterspalieren und engen, halbverborgenen Ziegeltälern voller Wäscheleinen und Taubenschläge. Mehrere Generationen von Fernsehantennen stachen empor wie Gebeine auf einem Elefantenfriedhof. Glockentürme, Schlote, Zinnen und Gesimse reckten sich der Dunkelheit entgegen. Leere Stahlgerüste, zurückgelassen von abgezogenen Bautrupps, erhoben sich auf Dächern, die kaum ihr eigenes Gewicht zu tragen vermochten. Klobige Fahrstuhltürme konkurrierten mit schlanken Sakralbauten. Bogenfenster, Säulenpavillons und Strebepfeiler verbreiteten die erhabene Aura der Historie, Kuppeln und Palmen wirkten fast orientalisch. Gemüsestauden in Zinkwannen, lackierte Gartenmöbel und vergilbte Markisen bildeten eine eigene Welt hoch über der Stadt, gänzlich losgelöst vom Treiben in der Tiefe. Am Tag leuchtete all das in warmem Ocker und Siena, in der Nacht aber schlummerten die Kronen der Stadt in fremdartiger Erhabenheit.
Jupiter sah Coralina aufmerksam an. »Du bist sicher oft hier oben.«
»Hier hab ich mich immer am sichersten gefühlt. So … frei. Klingt das albern?«
»Überhaupt nicht.«
»Natürlich tut es das. Aber ich schätze, das ist der Preis aller Wahrheit.«
Er dachte noch darüber nach, wie sie das meinte, als sie sich vor ihm auf die Zehenspitzen stellte und ihm einen Kuß auf die Wange gab. »Danke, daß du mich gerettet hast.«
»Du hast gesagt, du wärst nicht gefallen.«
»Wäre ich auch nicht.« Sie klang belustigt. »Aber du hast Angst um mich gehabt, und das zählt.«
Als sie zurücktrat, hatte die Kälte ihre Brustwarzen aufgerichtet. Sie bemerkte es selbst und zupfte ein wenig verschämt am Saum ihres Sleepshirts.
»Laß uns wieder hier raufkommen, wenn es wärmer ist«, sagte sie und sprang mit wenigen Sätzen die Treppe hinunter. Jupiter fühlte sich schrecklich alt, als er ihr folgte und jede Stufe einzeln nahm.
Genauso schnell eilte sie die Treppen zum Keller hinunter, mit großem Vorsprung und ohne abzuwarten, ob er ihr folgte; sie wußte auch so, daß er es tat.
Als er seine Unterkunft erreichte, war Coralina längst in ihrem Schlafzimmer verschwunden und hatte die Tür hinter sich geschlossen.
KAPITEL 3
Der Zwerg
II Tevere biondo. Der blonde Tiber. Lehm und Sand verleihen dem Fluß diese Farbe, während er sich hinab aus dem Apennin windet, durch Umbrien und Latium fließt, bis nach Rom und ins offene Meer.
Als Jupiter mit Coralina hoch über dem Ufer den Gehweg entlang schlenderte, entschied er, daß dies ein weiteres Beispiel jener italienischen Eigenheit war, alles bello, alles schönzureden. Der Tiber war durchsetzt mit Giften aller Art, und noch vor wenigen Jahrzehnten waren Menschen an den Infektionen gestorben, die sie sich beim Bad im Fluß zugezogen hatten. Und dennoch nannte ihn niemand den schmutzigen Tiber. Den schwefelgelben Tiber. Den giftigen Tiber. Nein, blond war er, auch wenn in seinem Fall die Farbe nicht echter war als im Haar der Verkäuferinnen rund um die Piazza di Spagna.
»Ich würde die Scherbe gerne einem Bekannten zeigen«, sagte Jupiter, als sie sich ohne Eile Piranesis Kirche näherten. Das Ledersäckchen mit dem Bruchstück aus Ton trug er in seiner Manteltasche.
»Welchem Bekannten?«
»Amedeo Babio. Schon von ihm gehört?«
Coralina runzelte die Stirn. »Der Zwerg?«
»Babio mag klein sein, aber er kennt sich aus mit antiker Kunst. Besser als die meisten anderen, die ich kenne.«
»Die Shuvani hält nicht viel von ihm.«
»Die beiden mögen sich nicht«, bestätigte er schulterzuckend.
»Ist das ein Problem?«
»Zumindest nicht meines.«
Coralina trug ein dickes Kapuzenshirt aus Fleece. Sie schüttelte sich kurz und schob die Hände in die Ärmel. Jupiter fand es verwunderlich, daß sie heute morgen, bei strahlendem Sonnenschein, stärker fror als vergangene Nacht, halbnackt auf dem Dach des Hauses.
»Babio ist seit über zwanzig Jahren einer der angesehensten Kunsthändler der Stadt«, sagte er. »Nicht der bekannteste, aber einer mit äußerst finanzkräftiger Kundschaft.«
»Mit legaler Ware?«
Er setzte ein vages
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