Das Haus des Daedalus
denkst doch das gleiche wie ich.«
»Ich weiß nicht, was ich denken soll.«
Lorin starrte an der Kamera vorbei in Remeos Gesicht, dann geradewegs ins Objektiv. »Wir werden hier unten sterben«, sagte er leise und überraschend gefaßt, beinahe erleichtert. »Wir werden sterben wie Pascale.«
»Pascale ist nicht tot!« fuhr Remeo ihn an.
»Nein?« Lorin lachte schrill. »Wo ist er dann? Und was sind das für Geräusche?«
Einen Moment lang verstummten beide und lauschten in den Abgrund. Santino schob mit zitternden Fingern den Lautstärkeregler auf Maximum.
Weit, weit entfernt ertönte ein Stakkato heftiger Schläge. Erst klang es wie ein Klopfen, dann mehr und mehr wie rasche Schritte.
Wie Getrampel.
Und dann brach es von einem Augenblick zum nächsten ab.
»Es … es hat aufgehört«, flüsterte Lorin.
Remeo gab keine Antwort, horchte weiter.
»Es ist fort«, sagte Lorin noch einmal.
»Still!«
Schweigen legte sich über die Wendeltreppe. Eine Minute lang, dann zwei, drei.
Das Schnauben ertönte erneut, diesmal lauter und näher als zuvor.
Doch die beiden Mönche auf dem Bildschirm reagierten nicht. Lorin starrte weiter ins Leere, und auch Remeo hielt die Kamera ganz ruhig. So, als hätte er das Schnauben gar nicht gehört.
Und Santino begriff!
Er sprang vom Bett und hinkte ans Fenster. Er preßte sein Gesicht an das kalte Glas und zog es erst zurück, als er sah, daß die Scheibe beschlug.
Doch er täuschte sich. Der milchige Dunst auf der Scheibe drängte von außen gegen das Glas, nicht von innen. Es war der Rauch des niedergebrannten Müllfeuers, der noch immer nicht vollständig abgezogen war.
Unten, verzerrt und verschwommen jenseits der Schwaden, bewegte sich etwas. Ein schwarzer Umriß huschte über den Platz, vielleicht ein Fahrzeug, vielleicht aber auch etwas anderes.
Und abermals ertönte das Schnauben.
Santino wußte, was er zu tun hatte. Er schaltete das Gerät aus, stülpte seine Tasche darüber und zerrte den Reißverschluß zu. Dann, innerhalb von Sekunden, war er draußen auf dem Gang und eilte zum Notausgang, ein enges Treppenhaus hinunter und an der Rückseite der Pension auf einen Innenhof.
Als er durch einen Torbogen hetzte, glaubte er hinter sich abermals das zornige Brüllen des Stiers zu hören, so laut, daß selbst das Pflaster unter seinen Füßen erbebte, so wütend, daß sein Herz sich zusammenzog und er vor Übelkeit ins Taumeln geriet, stolperte, der Länge nach hinschlug und dabei fast das Gerät zertrümmerte. Im letzten Moment drehte er sich so, daß er die Tasche mit seinem Körper auffing.
Das Schnauben wiederholte sich nicht mehr, aber Santino kämpfte sich dennoch in Panik hoch und rannte weiter, rannte, so schnell sein lahmes Bein es zuließ, floh vor einem mächtigen, unsichtbaren Feind ins graue Abenddunkel.
Minuten später wußte er nicht mehr, wo er sich befand, irrte durch ein Labyrinth fremder Gassen, die er noch nie im Leben gesehen hatte. Es war, als hätte sich die Stadt selbst verändert, verschoben, im magischen Prozeß einer subtilen Neugestaltung.
War dies noch Rom, oder war es ein Ort aus seinen Alpträumen, das Zerrbild einer Metropole, so alt wie die Menschheit, das steingewordene Abbild seiner Angst?
Erschöpft sank er in einem Hauseingang nieder, zog die Knie an und hielt die schwere Tasche umklammert.
Durch Tränenschleier starrte er die Gasse hinunter, zurück in die Richtung, aus der er gekommen war.
Sie lag völlig verlassen da, menschenleer und still.
KAPITEL 4
Cristoforos Altar
Es war dunkel, als Jupiter vor dem Haus der Shuvani eintraf. Coralina öffnete ihm die Tür und ging voran, als sie gemeinsam nach oben stiegen, hinauf ins Wohnzimmer.
»Ich hab eine Überraschung für dich«, sagte sie mysteriös. Etwas schien sie zu amüsieren.
»Was für eine Überraschung?«
Sie gab keine Antwort, sondern blieb neben der Tür stehen und ließ Jupiter als ersten eintreten.
Der runde Holztisch vor den Fenstern war gedeckt, in den Schüsseln dampfte das Essen. Die anderen hatten bereits begonnen, nicht aus Unhöflichkeit, sondern weil sie einen Gast hatten, der aussah, als könne er jeden Bissen gut gebrauchen.
Ein alter Mann, den Jupiter nie zuvor gesehen hatte, saß vor einem gefüllten Teller. Hungrig schaufelte er das Essen in sich hinein, ohne Jupiters Eintreten wahrzunehmen.
Die Shuvani saß einen Platz weiter und blickte Jupiter mit gerunzelter Stirn entgegen. Er sah ihr auf den ersten Blick an, daß ihr die Situation
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