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Das Haus des Daedalus

Titel: Das Haus des Daedalus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Kamera war, denn der Mönch gestikulierte beim Sprechen in die Richtung des Geräts. Augenscheinlich behauptete Lorin, in dem Licht nicht schlafen zu können. Vermutlich aber, so nahm Santino an, war es die Furcht, die ihn nicht zur Ruhe kommen ließ. Lorin war schon immer zu stolz gewesen, irgendwelche Schwächen einzugestehen.
    Als Remeo sich weigerte, den Scheinwerfer abzuschalten, kam es zu einem kurzen Streit, ehe sich schließlich Pascale mißmutig aufrichtete und das Wortgefecht der beiden beendete. Offenbar einigten sie sich darauf, das Licht zumindest für eine Weile auszuschalten.
    Remeo näherte sich der Kamera, und Augenblicke später wurde das Bild dunkel. Allerdings ließ er das Gerät laufen, so daß der Ton weiterhin aufgezeichnet wurde. In der Mitte des Bildes erschien bald darauf ein heller Schimmer, und es dauerte einen Moment, ehe Santino erkannte, daß Remeo zwischen den beiden ruhenden Brüdern eine Kerze angezündet hatte. Der Schein war zu weit entfernt und nicht stark genug für das Objektiv der Kamera, so daß die Umgebung unsichtbar blieb.
    Santino hörte Scharren von Stoff auf Stein, als Remeo sich unweit der Kamera niederließ. Einmal mehr durchzuckte Santino heftiger Schmerz über den Verlust des Freundes. Es war ungeheuer schwer, sich diese Bilder anzuschauen, jetzt, da er wußte, daß seine Brüder längst tot waren. Zum Zeitpunkt der Aufzeichnung hatten sie noch nicht geahnt, welches Ende ihrer Expedition bevorstand. Santino hätte am liebsten den Monitor angebrüllt, hätte seinen Freunden gerne zugerufen, auf der Stelle umzukehren, zurück ans Tageslicht und in Sicherheit zu klettern. Doch der schwarze Schlund hatte sie verschlungen, selbst Remeo, dem es mit letzter Kraft gelungen war zurückzukommen; etwas von ihm war dort unten geblieben, sein Verstand, vielleicht sogar ein Teil seiner Seele.
    Santino rieb sich die Augen und schob das Brennen auf seine Übermüdung. Er hatte lange genug um seine Freunde geweint. Jetzt mußte er sich konzentrieren, denn jeden Augenblick konnten jene Geschehnisse ihren Anfang nehmen, die letztlich zur Katastrophe geführt hatten.
    »Ich friere«, flüsterte Remeo in der Dunkelheit. Er mußte seine Lippen ganz nah an das Kameramikrofon gebracht haben, damit er die beiden anderen nicht störte. »Wir sehen nichts und niemanden, aber ich habe das Gefühl, als wären wir hier unten nicht allein. Irgend etwas ist hier, und ich weiß nicht, ob ich wirklich herausfinden möchte, was es ist.«
    Dann komm zurück, flehte Santino in Gedanken. Komm zurück und bleib am Leben!
    »Immer hat man uns gepredigt, die Hölle sei ein Ort des Feuers«, wisperte Remeo. »Ein Ort ewiger Flammen und Glutöfen. Aber warum spüren wir dann nichts davon? Warum sehen wir nichts? Warum ist hier nur Leere und Dunkelheit? Entspricht all das nicht viel eher unserem Bild vom Tod ohne ein ewiges Leben? Und ist dieser Ort hier vielleicht sogar der Beweis, daß überhaupt nichts auf uns wartet, wenn wir sterben?« Er verstummte, während Santino seine Hände in die Bettdecke krallte.
    Schließlich fuhr Remeo fort: »Ich überlege schon eine ganze Weile, ob wir nicht alle längst tot sind. Absurd, ich weiß. Und falls wir irgendwann nach oben zurückkehren und ich diese Bänder anschaue und mich selbst über diese Dinge reden höre, werde ich lachen oder mich schämen -auf alle Fälle aber werde ich froh sein, daß all das nur dumme Spekulationen waren.« Er machte abermals eine Pause, ehe er weitersprach: »Aber wenn wir nicht zurückkehren, und ein anderer diese Worte hört -vielleicht du, Santino, ich bete, daß du es bist -, dann bedeutet das vielleicht auch, daß ich recht hatte. Möglich, daß wir im selben Moment gestorben sind, als wir diese Treppe betraten. Und daß dies hier gar nicht die Hölle ist, daß es gar keine Hölle gibt. Möglich, daß dieser Ort nichts anderes ist als die Manifestation unseres Todes.«
    Remeo verstummte und ließ Santino damit Zeit, über seine Worte nachzudenken. Das, was sein Freund da sagte, war Blasphemie. Und dennoch … auf eine eigenwillige Art und Weise erschienen Remeos Vermutungen Santino beinahe plausibel.
    Himmel, dachte er erregt, es ist fast, als wäre ich selbst dabeigewesen, irgendwo da unten auf dieser verfluchten Treppe ins Nirgendwo.
    In den Tod, hörte er Remeo in seinen Gedanken flüstern.
    Die Treppe in den Tod.
    Santino atmete tief durch, stand auf und ging im Zimmer hin und her. Das Videoband lief weiter, aber im Augenblick

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