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Das Haus des Daedalus

Titel: Das Haus des Daedalus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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für einen kurzen Moment sah es aus, als wollte er Remeo schlagen. »Wie konnte das passieren?«
    »Es tut mir leid«, wiederholte Remeo betont.
    Sekundenlang starrten sich die beiden Mönche verbissen an, dann schüttelte Remeo den Kopf. »Komm, wir müssen ihn suchen.«
    Lorin schaute die Treppe hinunter. »Heißt das, wir gehen weiter?«
    »Ich glaube nicht, daß er zurückgegangen ist. Er hätte vorher mit uns darüber gesprochen.«
    Etwas hat ihn geholt, durchzuckte es Santino. Als ihr geschlafen habt, hat es ihn gepackt und mitgeschleift.
    »Gut«, sagte Lorin. »Dann los.«
    Sie packten rasch ihre Sachen zusammen. Lorin weigerte sich, Pascales Rucksack zurückzulassen, deshalb trug er seinen eigenen auf dem Rücken und den seines Freundes in den Händen. Remeo schulterte die Kamera. Lorin schenkte ihm einen unwilligen Blick, als er sah, daß das Gerät noch immer eingeschaltet war, sagte aber nichts.
    Der Abstieg ging weiter.
    Nirgends entdeckten sie eine Spur des Verschwundenen. Hin und wieder trat Remeo mit der Kamera an das Geländer und richtete sie in den Abgrund. Noch immer war kein Ende der Treppe zu erkennen, endlos schraubte sie sich abwärts, tiefer und tiefer über den Rand des Lichtscheins hinaus.
    Gelegentlich stritten sie miteinander, immer dann, wenn Lorin Remeo Vorwürfe machte. Santino vermutete, daß sich die beiden insgeheim auf die Hoffnung versteift hatten, Pascale sei in einem Anflug von Panik zurück nach oben gelaufen, ganz gleich, ob ihnen eine solche Flucht plausibel erschien oder nicht. Menschen taten vieles, wenn sie in Todesangst waren. Es war die bequemste Lösung -und sie half ihnen, den Mut zur Fortsetzung ihres Weges aufzubringen.
    Santino stand auf. Er trat ans Waschbecken, ließ eiskaltes Wasser einlaufen und tauchte sein Gesicht hinein, so lange, bis er die Luft nicht länger anhalten konnte und ein Schwall von Luftblasen um sein Gesicht an die Oberfläche sprudelte. Er betrachtete seine naß glitzernden Züge in dem kleinen Spiegel und fand, daß er kaum noch aussah wie er selbst. Er war immer schmal und knochig gewesen, aber jetzt bildeten die Wangen tiefe Täler in seinem Gesicht. Die Ringe um seine Augen waren so dunkel, als hätte er sie mit Schminke nachgezogen. Sein kurzgeschnittenes Haar, schwarz wie das seiner sieben leiblichen Brüder daheim in Kalabrien, glänzte fettig, obwohl er erst vor wenigen Stunden geduscht hatte.
    Geh zurück, flüsterte eine Stimme in seinem Kopf, die mehr und mehr klang wie jene Remeos. Sprich mit Abt Dorian. Bitte ihn um Verzeihung für alles. Und dann bete, bis deine Lippen bluten.
    Aber wenn er das tat, würden sie ihn fangen. Niemand würde ihn schützen können, weder Dorian noch einer der anderen Kapuziner.
    Er war verdammt, ganz gleich, welche Bußen er sich auferlegte. Alles umsonst.
    Draußen vor dem Fenster ertönte ein Schnauben. Ein tiefes, rasselndes, animalisches Schnauben.
    Santino drehte sich um und starrte die Scheibe an. »Was …«, entfuhr es ihm, aber er brachte keinen vollständigen Satz zustande.
    Das Schnauben wiederholte sich … aber diesmal kam es nicht von draußen. Es war im Zimmer. Es kam aus dem Lautsprecher des Abspielgeräts!
    Er stürzte zum Bett und blickte auf den Bildschirm. Die Aufregung raubte ihm fast den Atem. Das Bild zuckte wild umher, von links nach rechts und wieder zurück.
    »Was war das?« stammelte Lorin. »Gott im Himmel, was war das?«
    Remeo gab keine Antwort. Der Scheinwerfer der Kamera huschte über die Stufen, nach oben und unten, auf der Suche nach der Ursache des Schnaubens. Es mußte sehr laut gewesen sein, wenn das Mikrofon es so deutlich auffangen konnte. Oder sehr nah.
    Lorins Gesicht erstarrte zu einer Grimasse der Furcht. »Du hast es doch auch gehört, oder?«
    »Ja«, erwiderte Remeo mit schwacher Stimme. »Ich hab’s gehört.«
    »Kam das von oben oder von unten?«
    Das Bild erzitterte, als Remeo den Kopf schüttelte. »Ich weiß es nicht.« Sein Tonfall verriet das ganze Ausmaß seiner Verwirrung.
    »Es klang wie ein … Tier«, sagte Lorin.
    »Was für Tiere könnte es hier unten geben?«
    Nicht wie irgendein Tier, dachte Santino erschüttert. Das war ein Stier. Das Schnauben eines Stiers.
    Lorin kam näher, bis er unmittelbar vor der Kamera stand. Er senkte seine Stimme zu einem kaum mehr verständlichen Flüstern.
    »Glaubst du, daß es das war, was Pascale geholt hat?«
    »Wir wissen nicht, ob ihn irgend etwas geholt hat.«
    »Aber du glaubst es doch auch, oder? Du

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