Das Haus des Daedalus

unternommen, ihre Geheimnisse und Lehren in Stein zu verewigen!
    Fulcanellis Steckenpferd waren die Alchimisten des Mittelalters. Die Adepten dagegen widmeten sich in ihren Forschungen der Epoche der Römer und Griechen, ja, sie gingen sogar noch weiter zurück, indem sie die Gräber der Etrusker untersuchten und den Einfluß dieses Volkes auf die okkulten Bewegungen der klassischen Antike erforschten. Ich denke, Sie wissen genug über Piranesi, um bereits zu ahnen, daß er eines der Gründungsmitglieder der Adepten war.«
    Jupiter erinnerte sich an Coralinas Ausführungen im Haus der Shuvani. Sie hatte von der Fixierung des Kupferstechers auf die etruskische Architektur gesprochen. Die Carceri selbst waren dieser Bauweise nachempfunden, eine übersteigerte Vision imaginärer Etruskerbauten.
    Janus sprach weiter: »Die Adepten forschten hier in Rom, aber auch in anderen Regionen Italiens und Südeuropas. Unter ihnen gab es, wie Sie sich vorstellen können, mehrere Theologen, und einer von ihnen hatte Zugang zu den Archiven des Vatikans. Dort entdeckte er eine antike Schale aus dem minoischen Zeitalter. Längst war vergessen, wie sie hierher gelangt war … vermutlich als Geschenk irgendeines griechischen Christen an die Kirche, viele Jahrhunderte früher. Diese Schale war beidseitig mit einer Spirale unbekannter Hieroglyphen bedeckt, außerdem gab es auf der einen Seite einen unleserlichen Text, der offenbar nachträglich eingeritzt worden war. Sie haben die Scherbe gesehen, Sie wissen also, wovon ich spreche. Ein wertvolles Stück, zweifellos, aber für die Adepten sollte es vor allem symbolischen Wert erhalten. Zu Beginn war es nur eine Spielerei, ein Gegenstand, um den sie sich bei ihren Treffen scharten, so wie andere Geheimbünde sich um Zirkel und Winkelmaß oder um eine Replik des Grals versammelten. Wir dürfen nicht vergessen, daß dies alles junge Männer waren, manche kaum zwanzig Jahre alt, mit allerlei verrückten Flausen im Kopf.
    Es vergingen mehrere Jahre, in denen die gestohlene Schale aus dem Vatikanischen Archiv den Adepten als Symbol diente, und es war in dieser Zeit, daß sie sich ihren Namen gaben. Dann aber machte sich einer von ihnen, unser Freund Piranesi, daran, den Text auf der Schale zu dechiffrieren. An den Hieroglyphen ist er vermutlich gescheitert, zumindest weist nichts darauf hin, daß er ihre Bedeutung je entschlüsselt hat … sie waren vermutlich zu alt und ihre Form zu beliebig, um eine exakte Botschaft daraus abzulesen. Anders aber die eingeritzte Schrift zwischen den Hieroglyphen! Sie war erst später hinzugefügt worden, und ihre Bedeutung ließ sich leichter enträtseln, vor allem für jemanden, der sich bereits mehrere Jahre mit der graphischen und kalligraphischen Kunst beschäftigt hatte. Piranesi stieß auf etwas, aber er verzichtete darauf, die übrigen Adepten in seine neue Erkenntnis einzuweihen. Es muß ihn in seiner Entscheidung bestärkt haben, daß wenig später ein heftiger Streit zwischen den Adepten entbrannte. Offenbar hatte er geahnt, wie verletzlich der Zusammenhalt zwischen den Freunden war, und er wollte nicht, daß die geheime Botschaft durch einen Zwist in die Öffentlichkeit getragen würde.
    Während dieses Streits aber geschah es, daß die Schale aus dem Reich des Minos zu Bruch ging … sie zerbrach in sechs Scherben. Die Zerstörung dieses Symbols einte den Bund von neuem, und es wurde ein Pakt geschlossen: Jeder Adept erhielt eine der sechs Scherben zur Aufbewahrung. Man einigte sich darauf, daß nach dem Tod jedes Mitglieds dessen Scherbe zurückgegeben werden mußte, um so im Laufe der Jahrzehnte die Schale wieder zusammenzusetzen. Jener, der als letzter überlebte, sollte sein Stück mit den anderen vereinen, damit das Geheimnis wiederhergestellt war. Darauf leisteten alle sechs einen Schwur.« Janus lächelte nachsichtig. »Flausen, wie gesagt. Junge Männer neigen zu solchen Ideen, wenn man sie gemeinsam in einen Raum sperrt. Bis dahin waren die Adepten so eine Art Studentenvereinigung gewesen, die sich mit Architektur und Okkultismus beschäftigte. Nun aber hatten sie die Weichen gestellt, um zu einem echten Geheimbund zu werden. Sie hatten ihr Symbol und ihren Schwur, und zumindest einer von ihnen, Piranesi, verfügte über geheimes Wissen. Aufgrund dessen wählte er für sich jene Scherbe, auf der, wie er wußte, der wichtigste Teil der codierten Botschaft stand, jenes Bruchstück also, ohne das alle anderen wertlos waren.
    Wieder vergingen