Das Haus des Daedalus
als zweihundert Jahre vergehen würden, konnte er nicht ahnen.« Janus machte eine fahrige Handbewegung. »Alles Theorie, versteht sich. Aber meines Erachtens ist es die Wahrheit. Bedenken Sie auch, daß der Bund damals noch nicht so gefährlich war wie heute. Ich glaube nicht, daß Piranesi die Adepten jemals ernsthaft gefürchtet hat … nein, gefürchtet hat er etwas anderes, etwas, das ihn davon abhielt, die Carceri ein zweites Mal zu betreten.«
»Das heißt«, faßte Jupiter die Ausführungen des Geistlichen zusammen, »Estacado weiß, daß die siebzehnte Kupferplatte in irgendeiner Form den Schlüssel zu dieser Tür darstellt. Und er weiß auch, daß die Scherbe ihn zur dieser Tür führen wird.« Er machte eine kurze Pause, dann führte er den Gedanken zu Ende: »Warum aber überhaupt das alles? Was haben die Adepten davon, wenn sie die Tür finden und öffnen? Ich meine, es muß doch mehr dahinterstecken als nur gekränkter Stolz darüber, daß Piranesi Estacados Vorgänger an der Nase herumgeführt hat. Und sicher auch mehr als ein rein archäologisches Interesse.«
»In der Tat«, bestätigte Janus. »Aber vergessen Sie nicht, daß die Adepten heute auf der Seite des Vatikans stehen. Was sie tun, tun sie in gewisser Weise für den Fortbestand der katholischen Kirche. Was, wenn die Kirche schon seit Jahrhunderten von der Existenz dieser uralten Bauwerke gewußt hätte, lange bevor Piranesi auf sie stieß? Wenn sie, wie ich schon sagte, darin die physische Manifestation der Hölle vermutete? Bedenken Sie, wir reden jetzt vom Mittelalter, von einem idealen Nährboden für Aberglauben und religiösen Fanatismus. Damals wurden die realen Carceri entdeckt, und jemand faßte den Entschluß, ihre Existenz geheimzuhalten und den Eingang zu versiegeln, indem man ihn unter dem prachtvollsten Bauwerk der Christenheit begrub … unter einer gewaltigen Basilika, die alles bisherige in den Schatten stellen sollte, eine Kathedrale von solchen Ausmaßen, daß sie mit ihrem Prunk jede Erinnerung an die heidnische Anlage unter ihren Fundamenten auslöschen würde.«
»Das macht keinen Sinn«, widersprach Coralina. »Der Petersdom ist nicht aus dem Nichts entstanden. Als man im 16. Jahrhundert mit den Arbeiten daran begann, stand an derselben Stelle schon zwölfhundert Jahre lang eine andere Basilika.«
»So ist es«, stimmte Janus zu. »Die Basilika des Konstantin, errichtet im vierten Jahrhundert. Sie wurde auf altem Etruskerland erbaut, an einer Stelle, an der einst ein gewaltiger etruskischer Friedhof lag … und natürlich das Grab des Petrus. Es waren vermutlich die Etrusker oder gar ihre Vorfahren, die die Carceri errichten ließen. Was, wenn die frühen Christen hier auf ihren Eingang stießen, ihn für das Tor zur Hölle hielten und die heiligste aller Reliquien als eine Art Wächter davor plazierten?«
»Sie glauben allen Ernstes«, sagte Jupiter, »daß die Gebeine des Petrus hier begraben wurden, um das Tor zur Hölle zu bewachen?«
»Allerdings. Im Mythos gilt Petrus bis heute als Oberster aller Torwächter. Er entscheidet, wer das Reich Gottes betreten darf und wer abgewiesen wird. Gut möglich, daß hier ein Teil der Wahrheit in den Mantel der Legende gekleidet wurde.« Er brach kurz ab, als hätte er einen Moment lang den Faden verloren, doch dann fuhr er unbeirrt fort: »Später aber kamen Zweifel an der Echtheit der Gebeine auf, und so entschied man während der Renaissance, ein neues, besseres Siegel anzubringen. Papst Julius II. ließ die alte Basilika abreißen und gab 1506 den Auftrag, eine neue Kathedrale zu errichten, prachtvoller als alles bisher Dagewesene. 1626 war der Bau vollendet und Urban VIII. nahm die Domweihe vor. Damit glaubte man, den vermeintlichen Einstieg zur Hölle für alle Zeiten versiegelt zu haben. Bis … und damit schlagen wir den Bogen zu den Adepten -, bis Piranesi die Inschrift der Schale entzifferte und den zweiten Zugang entdeckte.«
»Einen zweiten Zugang?« Coralina blickte verwirrt von Jupiter zu Janus. »Aber Sie sagten doch …«
»Die Tür, von der wir vorhin gesprochen haben, jener Einstieg, den Piranesi entdeckt und vermutlich auch benutzt hat, ist nicht das Hauptportal der Carceri.«
Jupiter schüttelte resigniert den Kopf. »Die Geschichte wird nicht plausibler, indem Sie sie alle fünf Minuten von hinten nach vorne krempeln.«
Janus und die Äbtissin wechselten einen kurzen Blick. Dianas Hand, welche die ganze Zeit über ruhig auf dem Tisch gelegen hatte,
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