Das Haus des roten Schlächters
mir leid, Francis«, murmelte er und
schaute sich um. War Cranston hier? Er war sicher, daß er die
Stimme des Coroners gehört hatte.
Athelstan ging zur
Ladeluke und spähte hinunter: Dort hockte eine nackte Frau,
das Gesicht hinter einem schwarzen Schleier verborgen. Aus ihrem
Mund quoll eine ekelhafte Kröte, und um ihren Hals ringelte
sich eine gelbe Schlange, deren rote Schlitzaugen wie Diamanten
funkelten. Eine dicke Ratte hockte neben ihr. Athelstan stieg die
Leiter hinunter. Hinter der Frau kniete ein Ritter in voller
Rüstung mit strenger, ungerührter Miene; seine
eisengepanzerten Hände ruhten auf dem Heft eines
mächtigen zweischneidigen Schwertes. Es stank nach Tod, und
Athelstan fühlte, daß jemand hinter ihm stand. Er
schüttelte sich heftig, als eine Hand seine Schulter
packte.
»Athelstan!
Athelstan! Bruder, um Gottes willen!«
Der Ordensbruder
schlug die Augen auf. Cranston schaute auf ihn herab, das runde
Gesicht in sorgenvolle Falten gelegt. »Bruder, was ist
los?«
Athelstan starrte ihn
an. »Lieber Sir John … ich hatte einen Traum.«
Er rieb sich mit einer feuchtkalten Hand über das Gesicht.
»Ich hatte einen Traum«, wiederholte er.
»Aber keinen
angenehmen!«
»Das stimmt, Sir
John. Ein Succubus der Nacht mit der Macht von tausend Skorpionen
hat meinen Geist ergriffen.«
Cranston machte ein
verständnisloses Gesicht, und Athelstan
lächelte.
»Das war nicht
ernst gemeint. Ich glaube, mein Alptraum hatte mehr mit dem Essen
als mit dem Sterben zu tun. Wir haben gestern abend gut
getäfelt.«
»Gestern ist
gestern, und heute ist heute«, antwortete Cranston gewichtig.
»Los, Bruder, der Tag bricht an.«
Athelstan stand auf,
sprach ein hastiges Gebet und wusch sich mit eiskaltem Wasser aus
einem rissigen Zinnkrug. Sie rafften ihre Habseligkeiten zusammen
und gingen in den kalten, verlassenen Schankraum. Es brannte kein
Feuer, und der Raum wirkte nicht so freundlich und anheimelnd wie
am Abend zuvor.
Sie aßen rasch
ein paar warme Haferkuchen und tranken heißen Wein dazu. Dann
sattelten sie ihre Pferde und ritten hinauf zur
Hauptstraße.
Es versprach ein
schöner Tag zu werden. Eine blasse Sonne erhob sich über
den Horizont und vertrieb die Dunkelheit. Ihre Pferde stapften auf
dem gefrorenen Weg dahin, und die beiden Reiter achteten besonders
auf Schlaglöcher, die manchmal so tief waren, daß ein
unachtsamer Reiter mitsamt seinem Pferd stürzen und sich den
Hals brechen konnte.
Das Land lag verlassen
und schweigend vor ihnen. Athelstan schauderte bei dem Gedanken an
seinen Alptraum und die gespenstische Stille auf dem unheimlichen
Schiff. Die Hecken zu beiden Seiten waren noch schneebedeckt und
die Felder steinhart gefroren unter Schichten von Eis. Hungrige
Krähen kreisten geräuschvoll über einer Gruppe
Eichen, die ihre schwarzen Äste in den heller werdenden Himmel
reckten.
»Ich
wünschte, ich wäre wieder in London«, stöhnte
der Coroner. »Ich hasse das verfluchte Land. Die Stille ist
mir ein Greuel!«
Athelstan bemerkte
etwas Buntes in einem Graben, und er lenkte sein Pferd dorthin, um
nachzusehen. Der Leichnam des alten Mannes war von Kopf bis zu den
Knien mit einem weiten, fadenscheinigen Gewand bedeckt und
steifgefroren. Als Athelstan die blauschwarzen Löcher sah, die
hungrige Raben in das magere weiße Fleisch gehackt hatten,
schloß er die Augen und flüsterte ein Gebet.
»Gott gebe ihm
die ewige Ruhe«, murmelte Cranston. »Bruder, wir
können nichts für ihn tun.«
Sie kamen durch ein
stilles, schlafendes Dorf; ein paar schwarze Rauchfahnen waren das
einzige Lebenszeichen. Eine Stunde später ritten sie auf das
Dorf Leighton zu. Am Kreuzweg sahen sie eine Schar Dorfbewohner,
die sich um ein geschwärztes Schafott drängten. Gottlob
war der eiserne Galgen leer.
Die Leute umstanden
einen Toten, während zwei stämmige Arbeiter den
steinharten Boden am Fuße des Schafotts aufhackten. Mit
Spaten und Hacken hoben sie eine flache Grube aus, und ihr Atem
hing in der frostigen Luft. Athelstan sah Cranston an. Der Coroner
zuckte die Achseln, schob aber die Hand unter den Mantel, ob der
Dolch auch locker in der Scheide steckte.
Die Dorfbewohner
schauten auf, als die Reiter näher kamen. Eine alte Frau mit
gelbem und runzligem Gesicht, deren ausgemergelte Gestalt in eine
verschlissene Kuhhaut gehüllt war, kam ihnen
entgegengeschlurft.
»Morgen,
Morgen!« krähte sie. »Reisende auf einer solchen
Straße?« Mit milchig trüben Augen grinste
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